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England nach Profumo
Man könnte über die Profumo-Affäre in ähnlicher Art hinweggehen, wie es offenbar den Presseberichten nach mit dem Spiel um „Otto, den Gefährlichen“ in Österreich geschieht. Aber England unterscheidet sich von Österreich nicht nur in geographischer Hinsicht. Eine sich ihrer Funktion in
Presse, ein durch lange Tradition geschütztes und dadurch intaktes Parlament und eine geistige Wachheit der Wähler verhindern, daß die Entgleisung Profumos ohne Folgen bleiben wird. In diesem Bericht soll freilich nicht das Privatleben des ehemaligen Regierungsmitgliedes breitgetreten und nicht etwa den Episoden und Szenen — der
Phantasie eines Boccaccio würdig — im abwechslungsreichen Leben des Doktor Stephen Ward nachgegangen werden. Darin wird nicht der Zweck dieses Berichtes erblickt, auch wenn ein englisches Massenblatt, die „News of the World“, des den Konservativen nahestehenden (!) Zeitungskönigs Roy Thompson, mit dem Abdruck der Memoiren der Christine Keeler die Auflage und dadurch den Gewinn beträchtlich steigern konnte. Da sich das politische Klima seit Ende Juli normalisiert hat, ist es jetzt vielmehr an der Zeit, sich mit den tieferen Aspekten dieses Skandals auseinanderzusetzen.
Krise des „Establishment“
Was manchen Leitartikler und Politiker im Zusammenhang mit der Pro-fumo-Affäre beschäftigte, war die Frage, ob sie eine Einzelerscheinung ist oder das sichtbar gewordene Symptom des Verfalls der öffentlichen Moral. In vielen Kommentaren haben die Publizisten dies ausführlich erörtert. Der sozialistische „New Statesman“ stellte am 12. Juli gleichsam befriedigt fest, daß „die endlosen Verästelungen der Profumo-Affäre uns einige grausige Einblicke in die Art der Gesellschaft gewährt haben, die durch eine zwölf Jahre lange Tory-Herrschaft geschaffen wurde“.
In der Tat ließe sich ein ganzer Katalog von fragwürdigen Zuständen zusammenstellen. Eine kleine Auswahl dürfte zweifellos genügen.
Wenngleich der linke Flügel der Labour Party mit dem Vorwurf, die Konservativen seien eine Sammlung von hoffnungslosen Reaktionären, natürlich übertreibt, läßt sich doch nachweisen, daß dem inneren Kreis der Regierungspartei typische Kennzeichen zu eigen sind. Seine Mitglieder gehören dem an, das die Engländer „Establishment“ nennen. Es ist nict leicht, dieses Wort sinngemäß zu verdeutschen. Wer dem Establishment zugehört, entstammt einer „guten Familie“, das heißt, in der Regel einer begüterten deligen oder wohlhabenden Unternehmer- oder Bankierfamilie, hat eine Public School (Eton, Harrow, Rugby usw.) und ein traditionsreiches College in Oxford oder Cambridge besucht und zeichnet sich durch vorzügliche Umgangsformen aus. Dennoch ist Establishment mehr, als der Begriff „gute Gesellschaft“ umschreibt; es muß nämlich auch Kontrollmöglichkeit über eine politische Partei, über bestimmte Heeresteile oder über einflußreiche Unternehmen hinzukommen. Wer zum Establishment zählt, ist zwar nicht dumm, glänzt aber auch nicht durch überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten. Viele brüsten sich, wie etwa Major Morrison, der Vorsitzende des „Komitees von 1922“ (des Abgeordnetenklubs der Konservativen, dem allerdings keine Regierungsmitglieder angehören), nie ein Buch und regelmäßig nur eine Sportzeitung zu lesen. Nach Meinung dieses internen Zirkels dürfte die bloße Zugehörigkeit zum Establishment einen Mann für staatsmännische Aufgaben brauchbar machen. Es ist daher zweifellos kein Zufall, daß Mister Profumo über ein Millionenvermögen verfügt und in einer Public School war.
Der französische Publizist Boris Kidel faßte im „L'Express“ sein Urteil über Profumo in folgenden sarkastischen Worten zusammen: „Man hat immer gewußt, daß der Minister den Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens weit besser gewachsen war als seiner politischen Verantwortung in Verteidigungsangelegenheiten.“ Diese Tatsache an sich schockiert noch nicht. Es erschüttert jedoch, wenn man in vielen Kommentaren auf ähnliche Formulierungen stößt und im rechtsgerichteten „Spectator“ die verblüffende Feststellung findet, daß es „aus irgendeinem unerklärlichen Grund als selbstverständlich und unvermeidlich akzeptiert wurde, daß ein gesellschaftlicher Leichtfuß Staatssekretär war“.
In dieser Einstellung spiegelt sich eben das traditionelle Verhalten wider, daß ein Mitglied des Establishment ein Ehrenmann ist. Allgemein wurde übersehen, daß sich seit der edwardia-nischen Epoche auch in den Lebensauffassungen des Establishment einiges geändert hat. Heute sollte man sich lieber nicht zu sehr darauf verlassen. Der ehemalige Staatssekretär war nicht der eitrige, der von den Untugenden des Dr. Ward profitierte. Seine Bekanntschaft mit Christine söU eiriöm' Zusammentreffen in Cliveden House, dem Schloß des Lord Astor, intim geworden sein, und zwar unter Umständen, die die übrigen anwesenden Gäste in keinem Zweifel über die Richtung ließen, in der sich die Beziehung des Politikers und des Callgirls entwickeln würde. Mandy Rice-Davies plauderte sehr freimütig im öffentlichen Vorverfahren gegen Dr. Ward und gab die Namen einer Reihe von prominenten Männern preis, die in die Umtriebe des Arztes und seiner zahlreichen „Freundinnen“ verwickelt waren. „Man“ fand eben nichts mehr daran.
Verfallserscheinungen
Nun wäre es ungerecht, wollte man behaupten, amoralisches Verhalten beschränke sich auf die oberen Hunderttausend. Parties, zu denen man auch mich einlud, arteten nicht selten nach Mitternacht in einer Form aus, die mich veranlaßte, mich schleunigst zu verabschieden. Die Presse, und zwar nicht nur die Asphaltpresse, brachte in den letzten Wochen riesig Anzeigen einer Firma, die stolz verkündete, daß sie 70.000 Pfund für die Entwicklung eines Mittels zur Verhütung der Schwangerschaft aufgewendet habe, das in Form einer Tablette zu nehmen ist. Einer Statistik der in England üblichen „Familienplanungsgesellschaften“ zufolge haben im Herbst 1961 nur ein paar tausend, im Frühjahr 1963 aber schon fast hunderttausend verheiratete Frauen diese Verhütungstabletten geschluckt. In Romanen der bedeutendsten englischen Schriftsteller der Gegenwart genügen die normalen erotischen Beziehungen der Geschlechter nicht mehr, ein gültiges Bild der modernen Gesellschaft zu formen. Es gehört schon fast zum guten Ton, daß zumindest ein Homosexueller zu den Hauptpersonen der Handlung zählt oder die gewagtesten Dreieck-, Viereck-, und Fünfeckkombinationen.
Eine Reihe von Grundstückmaklern, vom „Guardian“ als „Paddington Racketeers“ bezeichnet, erzielte auf gewissenlose Art immensen Gewinn. Einer von ihnen ist der im November 1962 verstorbene Peter Rachmann — bekannt geworden auch im Vorverfahren gegen Dr. Ward als der „Beschützer“ von Mandy Rice-Davies. Er kam nach dem zweiten Weltkrieg praktisch ohne einen Groschen nach England und hinterließ nach seinem Tod eine Hinterlassenschaft von brutto 78.000 Pfund. Eingeweihte wundern sich, daß es so wenig ist, und vermuten, daß größere Beträge sicher vor dem Zugriff der Steuerbeamten in einer Schweizer Bank liegen. Nicht der finanzielle Erfolg Rachmanns hinterläßt einen schalen Geschmack im Munde. Es ist die Art, wie er zu seinem Vermögen kam. Er kaufte in guten Wohngegenden Häuser mit einer freien Wohnung — die übrigen Wohnungen waren bei niedrigem Zins mietengeschützt — relativ billig (in einem
Fall um 1500 Pfund). Dann quartierte er einen Westinder mit zahlreichem Anhang ein, gab sich als der soziale Hausherr, machte den neuen Mietern verständlich, daß er gegen laute Parties mit viel Jazz nichts einzuwenden habe — und hatte binnen zweier Monate die restlichen Wohnungen leerstehend. Sofort quartierte er weitere Farbige ein, von denen er exorbitante Mieten verlangte, auch bekam, um das Haus nach etwa zwei Jahren um 10.000 Pfund zu verkaufen. Das alles war auch konservativen Politikern bekannt, die zwar ihren Abscheu gegen solche Praktiken zeigten, aber nichts dagegen unternahmen.
Wie werde ich Politiker?
Es ist leider in der Praxis immer noch so wie in den Romanen zu Anfang des Jahrhunderts, daß sich Sprößlinge einflußreicher Familien dann der Politik zuwenden, wenn sie auf anderen Gebieten keinen Erfolg erzielten. Wer halbwegs gut aussieht, nicht gerade debil ist, erklärte mir einmal ein Dozent für Politische Wissenschaften einer nordenglischen Universität, und über genügend Geld verfügt, daß er sich einen tüchtigen Wahlmanager leisten kann, hat seinen Sitz im Unterhaus schon sicher. Einmal dort, gelangt er auch zu seinem Regierungsamt.
Die fatalen „dritten Männer“
Diese etwas fragwürdige Art der Auswahl der führenden Männer des Staates führt unmittelbar zum Aspekt der staatlichen Sicherheit. Seit 1951 wird Großbritannien in regelmäßigen Abständen von Spionageskandalen heimgesucht. Der Absprung von Bur-gess und MacLean machte den Anfang. Der damals als „dritter Mann“ verdächtigte „Kim“ Philby blieb weiterhin im Dienst des Geheimdienstes, zuletzt unter dem Deckmantel eines Auslandskorrespondenten in Beirut, von wo er Anfang des Jahres hinter den Eisernen Vorhang flüchtete. Sein Dop-pelagententum muß der Spionageabwehr zumindest seit eineinhalb Jahren bekannt gewesen sein, da ihn der damals übergelaufene Sowjetagent verriet. Trotzdem wurde er nicht kaltgestellt.
Das Bild runden hartnäckige Gerüchte ab, denen zufolge im Zusam-
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