6535993-1946_16_03.jpg
Digital In Arbeit

Englische Geistigkeit in der Zeitenwende

Werbung
Werbung
Werbung

Als die Springflut des Faschismus auf ihrem Höhepunkt war, vollzog sich im belagertem England eine große geistige Auseinandersetzung. Das englische Volk machte damals die gewaltigsten Anstrengungen zur Selbstbehauptung gegen einen Feind, der den ganzen Kontinent beherrschte. Es führte gleichzeitig den Kampf um die Erneuerung

des Geistes, bemühte sich in harter, freimütiger Selbstkritik um die Erkenntnis der Fehler und falschen Auffassungen der Vergangenheit und war bestrebt, zu Grundlagen und Planung einer neuen Weltordnung vorzudringen. Diese geistige Auseinandersetzung wurde auf einer moralisch-sittlichen Ebene ausgetragen. Ihre allgemeine Richtung kann

aik c h r i s t Ii c h - h um a n i s t i s ch bezeichnet werden.

Hatten sich in England schon nach dem Ende des ersten Weltkrieges weite Kreise vom liberalen Fortschrittsglauben abgewandt und sogar einem Kuiturpessimismus ergeben, der in Deutschland in Spengler seinen hervorragendsten Vertreter hatte und dessen Vorhandensein dort ein nicht zu unterschätzendes psychologisches Moment für den Aufstieg des Nazismus darstellte, gelangte nach dem Fehlschlagen der internationalistischen Bestrebungen und der Friedenspolitik der dreißiger Jahre auch in England die Demokratie in ein Stadium latenter Krisis. Das Versagen eines allein auf Kriegsangst gegründeten, hohlen Pazifismus, auch wenn er kein derartiges Ausmaß erreicht hatte wie in Frankreich, war doch gegenüber der erschreckenden Dynamik des Faschismus offenbar geworden. Ein Gefühl der Unzufriedenheit, Sinnlosigkeit und des Leerlaufs —. „frustration“ — hatte um sich gegriffen und den Mangel an realen geistigen Werten fühlbar gemacht. Dies war die Erscheinung, auf welche die NS-Propaganda abzielte, wenn sie behauptete, England wisse nicht, wofür es kämpfe. Aber gerade in den Jahren des' Krieges kam wesentliches neues Gedankengut zum Durchbruch.

England war nach der Niederlage Frankreichs auf sich allein gestellt. Die Plötzlichkeit dieser Situation und die unmittelbare Gefahr eines Existenzkampfes riefen die besten nationalen Kräfte wach. Die deutsche Luftoffensive trug die Realität des Krieges in damals noch unbekanntem Maße über den Kanal; immer und immer wieder war man genötigt, sich die ganze, furchtbare Wirk-, lichkeit des Krieges, seiner Opfer und Schrek-ken in Heimat, Front und Feindesland vor Augen zu führen.

Diese Stärke des Erlebens rückte die Frage nach Sinn und Wert der menschlichen Persönlichkeit in den Vordergrund. Im Zusammenhang damit steht zunächst die Erkenntnis, daß die übertrie-,; benen Hoffnungen des liberalen Optimismus„ eine unzuträgliche Schwächung des individuellen Selbstvertrauens, der Bereitschaft Härten auf sich zu nehmen, und eine Neigung zu intellektueller Unverantwortlichkeit gezeitigt haben. „Es bedarf der Erinnerung an, die vergessene, weil unbequeme Wahrheit; daß das Problem des Lebens keine einfache Lösung allein durch Änderung der äußeren Bedingungen zuläßt. Die Besessenheit vom Materiellen ist nicht der Geist, in dem die. menschliche Gemeinschaft groß wurde“„ schreibt zum Beispiel C. B r o g a n, und der englische sozialistische Essayist A. K ö s 11 e r ist der Meinung, daß unsere Genera-t i o n nach einer Zeit, die sich zu sehr auf die Wirksamkeit äußerer Veränderungen und Maßnahmen verlassen habe, für innere Erneuerungsbestffebun-gen reif sei. Denn wenn die Idee einer wahrhaft sozialistischen Gesellschaft 1918 greifbar schien, sei sie heute wieder in die Ferne gerückt und bedürfe erst der Voraussetzung einer inneren Wandlung, wenn • die Idee nicht an der Übermacht der äußeren Systeme zuschanden werden soll. Im Augen- • blick gelte es Werte zu retten, nicht zu zer-. stören.

Diese Tendenz einer Wendung nach innen führte zur Frage des sittlichen Maßstabes überhaupt, sowohl als der Grundlage individuellen Verhaltens, als auch der Moral im

öffentlichen Leben. Autöfen verschiedenster Geistesrichtungen stimmten darin überein, daß eine Anerkennung der morali-schenAutoritätderBibelgrund-legend notwendig ist. Die aus der liberalen Epoche herrührende Erscheinung der Einebnung der Werte kann nur durch eine Wiedereinsetzung derselben in ihre natürliche Hierarchie überwunden werden, an deren Spitze die geistige Persönlichkeit und Würde des Menschen steht.

Aus dieser Haltung heraus wurde es unternommen, den wankenden Begriff der Demokratie zu durchleuchten und zu klären. Das Wort „democracy“ ist im Englischen eng mit den Begriffen der Freiheit und des Rechts verknüpft. So fanden, diesen entsprechend, Verantwortlichkeit und Pflicht erste Betonung, ebenso wie die Einsicht, daß Demokratie nationale Einheit voraussetzt, Nation im Sinne von „Staatsvolk“, nicht ethnisch oder sprachlich verstanden. Auch die Gleichsetzung von Demokratie und freier Wirtschaft ist ja bekanntlich gefallen, wenn man auch eine verantwortliche Einzelinitiative nicht abgetötet wissen will.

Breiten Raum nehmen Erörterungen des Verhältnisses von Macht und Recht ein, die häufig einen metaphysisch = religiösen Ausklang nehmen. Hier hat das Phänomen des europäischen Faschismus als Endergebnis von Entsittlichung der Politik und Verfall der Geistigkeit Berücksichtigung gefunden. Die Stärke der totalitären Staatsidee liegt in der Befriedigung des Bedürf-

nisses nach Führung. Sie schafft eine Autorität der Gewalt, die auf dem Unverständnis für sittliche Autorität beruht. Anerkennung einer Autorität aber bedeutet einen Akt der Urteilskraft. Die einseitig technisch = naturwissenschaftliche Bildung und die religiöse Verflachung unserer Zeit sind in hohem Maß dafür verantwortlich, daß viele das Wesen sittlicher und geistiger Autoritäten nicht zu erfassen vermögen, weil ihnen die Kriterien hiefür fehlen und sie durch die Inanspruchnahme falscher Autoritäten weiter verwirrt werden. Das waren die Erkenntnisse.

Große Aufmerksamkeit wird im Rahmen dieses Fragenkomplexes auch den Erziehungsproblemen gewidmet, die ja überhaupt in den angelsächsischen Ländern große Beliebtheit genießen. Neben einer Steigerung der Konkurrenztüchtigkeit und Bekämpfung der Vereinseitigung wird auch hier religiöse oder ästhetische Erziehung gefordert. So schreibt Michael Roberts in seinem — jetzt durch das British Council auch in Wien zugänglich gemachte — Werk „Recovery of the West“: „Die Wiedererweckung des Glaubens an die Realität des Guten und des Bösen ist die einzige verläßliche Quelle natürlicher Lebenskraft. Selbstdisziplin, Tatkraft und Entschlossenheit werden ihr entspringen. Sie sind die wirklichen Pfeiler der Demokratie.“ Sein Ausspruch darf als repräsentativ gelten.

Wie wird die Entwicklung Englands diesem Geiste Rechnung tragen? Ist England wie Sir Stafford Cripps sagt, auf dem Wege „towards Christian democracy“?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung