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Englische Nebelgeschichte

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Ich Kn neulich aus dem rußigen Nebel Londons zurück nach Yorkshire gereist; wieder im Nebel, sehr langsam — offenbar hatten die Zugsunfälle der letzten Tage den Lokomotivführer vorsichtig gemacht — und eingehüllt in jenes dichte Geriesel, das bei uns zu Land Nebelreißen heißt, bin ich zuletzt auf dem Milch wagen, der das Frühstück für Yorker Babies einholt, bei nacht- schlafener Zeit zu den Farmen heraufgefahren.

Wir machten Stationen, um unsere leeren Milchkannen beim Schein der Stallaternen gegen volle cinzutauschen, . wobei der von einem alten Soldatenmantel umflatterte Milchmann in der Haltung eines Fechters die einen emporschwang, die anderen aber vom Wagen stieß, daß sie weithin sprangen mit dem Getös eines Blediorchesters.

Aus den Gesprächen, die er gutgelaunt mit den Farmern pflog, entnahm ich, daß die eben entschwindende Nacht „Mischievous Night” gewesen war (in freier Übersetzung „Schlimme Nacht”, etwas Ähnliches wie der „Unsinnige” in Tirol, nur daß hier die Erinnerung an die Schießpulververschwörung gefeiert wird und bei uns der Abschied vom Fasdiing).

Die Kobolde, Schulkinder und andere sehr Jugendliche, hatten Heuschober umgedreht, Bauhölzer verschleppt und, was unsere Augen im ersten klaren Morgenschein staunend wahmahmen, Kühe zu Fabelwesen umgestaltet mit rotbcmalten Hörnern und blaugelb beklecksten Schwänzen. Die Herden werden hier bis spät in den Winter hinein im Freien gehalten.

Die anderen Leute, die wir unterwegs gesprochen, hatten den Spuk der Nacht gelassen, ja vielleicht sogar mit einem Schmunzeln hingenommen, die Geduld der Engländer mit kindlichen Streichen ist unbegrenzt — der Besitzer der verhexten Kühe jedoch nahm die Sache übel, denn er behauptete mit seinem weitsichtigen Blick im Mondschein, der hier oben ungetrübt gewesen war, einen Erwachsenen erkannt zu haben. Dieser hätte, einen großen Farhtopf tragend, zwei Kindergestalten mit kleinen Töpfen in Händen beim Überklettern der Mauer angeführt.

Der Tag war frühiahrsmäßig; die Stürme, ‘die so häufig über den britischen Inseln das Gewölk aller „Seven Seas” zusammentreiben, sind gelegentlich auch stark genug, um die Luft von einem Augenblick zum anderen zu klären, daß nicht der leiseste Schleier zurückbleibt, der Himmel mit einemmal vergißmeinnichtblau schimmert und im Winter die Vögel singen.

Es litt mich nicht in meinem Haus; ich verließ es bald wieder und ging weiter ins nächste Dorf, die kleinen Gärtchen besehen, die noch nicht zu viel’ vom Frost gelitten hatten und der Stolz jedes Cottages sind. Besonders ein Gärtdien ist da, das zur Schule gehört und im Sommer wie ein volles Blumenglas von Farben übergeht. In seiner Mitte steht eine Bank, welche die Aufschrift trägt:

Once behind the gate There is no need to wait, For God is in the garden.

(Einmal hinterm Gartenzaun, Brauchst du nicht zu warten, Denn Gott ist in dem Gag ten.)

Ich legte noch ein gutes Stück Wegs zurück, bevor ich bei meinen Freunden Dibb einkehrte, einem alten Ehepaar mit ein paar Enkelkindern und dem alten Jimmie, der weder ein richtiger Knecht noch ein Einleger, sondern etwas von beiden und dazu ein Armer im Geiste ist. Die Dibbs hatten ihn aus Gutmütigkeit aufgenommen, weil es ihm bei seinem letzten Herrn, dem Farmer David, schlecht gegangen war und er nicht ins Armenhaus wollte.

In der Wohnküche fand ich alles wie immer, das Feuer im Kamin, die alte Frau in ihrem Lehnstuhl, die den Teekessel bewachte, und ihren Mann am Teetisch — nur die Stimmung war gewitterschwül und uns zu Häupten irgendwo polterte es gewissermaßen grimmig.

„Jimmie geht”, sagte die alte Frau und deutete nach oben, „wir werfen ihn hinaus. Mein Bruder war eben da. Er hat ihn vergangene Nacht mit eigenen Augen gesehen zusammen mit Derek und Leslie, den Buben von unseren Nachbarn; und heute früh waren seine Kühe bunt angestrichen. Wir haben ihm gesagt, geh’ wenigstens hin und mach’ den Schaden wieder gut, wasch’ die Kühe ab. Im Vorhaus steht noch eine Flasche Terpentinersatz von der Frühjahrsputzerei her. Aber glauben Sie, er tut’s, der alte Sünder? Er leugnet alles ab. So muß er sich denn reisefertig machen …”

„Mir tut es leid, daß er gehen muß”, murmelte der Farmer, „ich bin an ihn gewöhnt und die Kinder haben ihn so gern. Eigentlich ist er selbst wie ein Kind. Schade… Es wird ihm nicht gut gehen beim alten David.”

„Das wird er sich selbst zuzuschreiben haben; und daß die Kinder an ihm hängen, ist eben das Schlechte”, sprach mit Nachdruck die Frau und sah in diesem Augenblick ihrem Bruder ähnlich. „Er ist ein übles Beispiel. Georgie hat zu heulen begonnen, als mein Bruder da war, und Allen hat ganz bös geschaut. Ich habe sie um Holz in den Wald geschickt, damit sie aus dem Weg sind, wenn Jimmie abgeht. Froh kann er sein, wenn David ihn aufnimmt. Ein anderer täte es sicher nicht.”

Vor mir auf dem Tisch stand eine Flasche Hollerwein, von der Hausfrau aus den Blütendolden des Hollers bereitet. Der Wein war ausgezeichnet, viel leichter, fand ich, als die Traubenweine, die hier aus importierten Beeren gepreßt werden. Ich trank mit Vergnügen in voller Unbedenklichkeit ein Glas ums andere, das mir bald der Mann, bald die Frau einschenkte.

Allein meine Annahme, ein Art leichten Heurigen vor mir zu haben, war irrig.

Ich schenkte Jimmie, den ich auf meinem Rückweg hinter dem Haus am Rand des Feldwegs antraf, meine letzte Zigarette, wozu ich mich im Zustand nüchterner Klarheit schwerlich entschlossen hätte. Er hielt Zwiesprache mit der Katze, die offenbar wie die Kinder an ihm hing, indem er leise durch die Zähne pfiff, während sie freundlich schnurrte. Sein Abschied von dem Tier gestaltete sich gewissermaßen zeremoniell mit vielen Kniebeugen und Streicheln.

„Hi, hi”,, machte er, „die fängt Heut keine Mäuse, sondern wartet weiter auf mich, und wenn die alte Dibb sich auf den Kopf stellt.”

Von Genugtuung geschwellt, stiefelte er bergan, ein zerknittertes Alräunchen. Die untergehende Sonne hing so niedrig vor uns, daß er geradewegs in sie hineinzulaufen schien.

Das Tal hinter uns war ganz dunkel, und eh wir uns dessen versahen, hatte die Nacht eines von dorther rasch aufsteigenden Nebels uns erreicht.

Jimmie fing alsbald mit seiner Ortskenntnis und seinem Orientierungssinn zu prahlen an. Es sei ein Glück für mich, daß wir denselben Weg hätten, denn er kenne jeden Stein und finde sich auch mit ‘verbundenen Augen prachtvoll zurecht. Zwischendurch behauptete er mit seiner dumpf knurrenden Stimme, die stets aus einem Keller hervorzudringen schien, daß der alte David, der nicht gern allein in seinem großen Hof schlief, über seinen Besuch entzückt sein werde. Er gedenke bei ihm bloß ein paar Tage zu bleiben, denn er finde zehn gute Stellungen für eine, als Kutscher, als Groom, als Kammerdiener feiner Herrn…

Wir tappten auf und ab über Hügel, durch Gräben; ich für meine Person war es zufrieden, ich ging wie auf Wolken.

Plötzlich saßen wir irgendwo oben auf Steinen. In bester Laune fragte ich: „Was ist das?” und Jimmie, von sportlicher Abenteuerlust erfaßt, erklärte aufgeräumt, daß wir allzuweit recht zum Teich geraten seien. Dies wäre die Böschung, wo schlampige Leute offenbar alte Schieferplatten abgelagert hätten. Er erbot sich zu einer Rekognoszierung, von der ich ihn trotz meiner unbedenklichen Stimmung abhalten wollte; zu spät, schon plätscherte es unter mir.

„Ich bin ins Wasser gefallen”, rief er überflüssigerweise vergnügt, „ich bin aber schon wieder draußen. Halten Sie sich seitwärts, immer seitwärts!”

Ich sprang ihm nach, landete auf seinem Rücken und Arm in Arm zogen wir weiter, endlos lange.

„Hallo, hier ist das Gatter vom alten David”, sagte er dann unversehens.

Sein gute Laune war dahin. „Ich möchte wissen, ob er Tee für uns kochen wird. Übrigens”, fügte er mutlos hinzu, „was hat man von seinem Tee, er macht ihn aus Brombeeren und Heublumen, der Geizkragen … Überhaupt — ein Haus ohne Frau ist ein ganzes Unglück, wenn man sich auch wgder die Schuhe abwischen noch die Hände waschen muß. Kein Mensch bäckt etwas, und wenn ein Knopf abreißt, ist er abgerissen.” Er seufzte lang gedehnt, es, klang wie eine leise Frage an das Schicksal: „Hätte ich vielleicht doch’ di Kühe ab- waschen sollen?”

Merkwürdigerweise ging der Weg aber jetzt nicht geradeaus auf eine Haustür zu. Er verlor sich statt dessen in rauhem Gras und nach einem kurzem Anstieg saßen wir wieder fest. Jimmie schlug vor, die Nacht hier zu verbringen; offenbar fühlte er sicHerleichtert bei der Vorstellung, den alten David erst viele Stunden später begrüßen zu müssen. Er wollte mir sogar den Kopf halten. „Der Kopf darf nie auf den Boden kommen, sonst stirbt man, eines unserer Pferde ist auf diese Weise umgestanden.” Aber noch während er sprach, begannen die Steine unter uns sich ganz sacht zu bewegen. Sie gaben nach, ich klammerte mich irgendwo fest, Wasser gluckste und spritzte auf und eine Tür kreischte.

Die Nacht vor meinen Augen färbte sich rötlich und eine bekannte Stimme sagte: „Was plätschert denn da noch so spät und bei dieser Finsternis?” Ich aber tat ein paar lange Schritte und stand — in der Küche der Familie Dibb.

Wir waren, so erfuhr ich, zweimal in weitem Bogen um den Hof herumgewandert und einmal auf dem alten Brunnenhaus und das zweite Mal schräg gegenüber auf dem morschen Dach eines ausgedienten Schuppens gelandet, unter dem ein Wassertrog stehengeblieben war. Beide Ruinen lehnten sich an den Abhang der großen Wiese, die das Anwesen von drei Seiten einschließt.

„Und wer ist denn das hinter ihnen?” fragte die alte Frau nach der ersten lachenden Begrüßung.

Jimmie hielt sich bescheiden im Schatten der Tür, und das war begreiflich. Ebenso begreiflich fand ich es, daß e in einer solchen Nacht nicht fortgewiesen wurde. Die Herzlichkeit des ihm gebotenen Willkommens aber setzte mich in Erstaunen. Er wurde gleich mir auf das wärmste eingeladen, sich zum Feuer zu setzen und Tee zu trinken, nachdem der Farmer, bereits halb ausgekleidet, zu Häupten der Treppe erschienen war und mit allen Falten seines Gesichts lächelnd heruntergerufen hatte: „Jimmie soll meinen Werktagsanzug an- legen, der unten hängt, und meine alten Pantoffel!”

,JDie Engel im Himmel haben ihre Freude an einem reuigen Sünder”, äußerte die Hausfrau, indem sie mit einem Teller voll Backwerk vor uns stand und Jimmie geradezu zärtlich ansah. „Mein Brud.tr hat seinen Burschen herübergeschickt mit der Botschaft, daß die Kühe wieder in Ordnung gebracht worden sind. Auch er muß heute hier übernachten.”

Wie war das? Jimmie sollte die Kühe abgewaschen haben? Wann? Ich betrachtete ihn, wie er im Feuerschein dasaß mit einem großen geblümten Ha’fen und einem ebenso großen Stück Ingwerkuchen und ernsthaft abwechselnd kaute und schluckte. Sonnenschein, Regen, schlechte Behandlung, gute Behandlung, er nahm alles, ohne zu fragen, gelassen hin, wie es eben kam.

Später, nachdem das Haus still geworden war, machte ich es mir auf dem Sofa bequem. Eben wollte ich einschlafen, da kicherte es hinter der Tür und herein sprangen Georgie und Allen, klein, blond und sauber in ihren hellen Schlafanzügen, und hörten nicht auf, um das Sofa herumzuhüpfen, denn die Kälte des Steinbodens zwickte sie in die nackten Füße.

Sie flüsterten als triumphierende Begleitung zu ihrem Siegestanz: „Jimmie ist wieder da und wir, wir haben die Kühe gewaschen. Derek hat uns einen Abkürzungsweg gezeigt, immer über die Mauern und quer durch den Bach und von hinten zu den Kühen in das Feld hinein. Er hat die Hörner gewaschen, weil er schon groß ist, und wir die Schwänze. Alle drei haben wir uns die Hosen zerrissen, weil wir auf dem Rückweg, damit es schneller geht, über die Felsen hinuntergerutscht sind. Glauben Sie nicht, daß er uns dafür nächstes Jahr in der Mischievous Night mitnimmt?”

Ein Stück Holz im Kamin, den die Hausfrau mir zu Ehren zuletzt noch einmal tüchtig1 in Gang gebracht hatte, verbreitete Harzgerüche.

Die Kinder waren fort; über mir hinter den Deckenbalken atmete jemand laut und gleichmäßig, und ich freute mich, daß auch Jimmie irgendwo in einem geschützten Winkel schlief.

Es war ein warmes Haus, ein gutes Haus. Aber wie ich so um mich blickte, auf die Wanduhr, den Glaskasten, die Anrichte, dachte ich, daß dies ebensogut ein Bürgerszimmer in der Stadt sein könnte; der Harzgeruch aber erinnerte mich an unsere Bauernhäuser daheim mit ihren getäfelten Stuben, Ofenbänken und geschnitzten Krippen, unsere Bauernhäuser, die weit von hier stehen, möglicherweise jetzt schon im tiefen Schnee. Die Rehe kommen dort naebts aus dem Wald, angelockt vom Duft des Heus, und springen im Mondschein um den Stadl.

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