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Englischer Sommertag

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Längs durch’ England, bis hinauf nach Schottland, führt die sogenannte „Große Nord-Straße”. Auf ihr stehe ich nun wieder in der Erinnerung — nahe Morpeth, hoch oben im Norden Englands. Aus einer wilden, stürmischen Nacht ist ein wunderbarer, sonniger Morgen geworden und unfaßbar weit und klar liegt das Land vor mir. Fruchtschwere gelbe Felder, tiefe grüne Wiesen, rotbedachte Häuser, vierkantige flache Kirchtürme und fallweise dunkle Wälder — bis an den Horizont. Es ist ein beglückendes Gefühl, ein Land so offen wie ein Buch vor sich liegen zu haben, soviel auf einmal sehen zu dürfen.

Aufgeschlossen wie das Land sind die Menschen. Vom Fahrer eines Personenwagens werde ich freundlich eingeladen, mitzukommen. Durch kleine friedliche Dörfer führt die Straße und über Brücken, unter denen Flüsse schläfrig fließen. Zwischen den breiten Bäumen eines Parkes tauchen die mächtigen Quader- und Rundtürme des alten Schlosses Alnwick auf, der Residenz des Herzogs von Northumberland.

Von Salzburg erzählt man, daß einmal in schweren Kriegszeiten zur Täuschung des belagernden Feindes ein einziger Stier, täglich in einer anderen Farbe bemalt, auf den Mauern der Feste herumgeführt wurde. Bei soviel Nahrungsvorrat, sagte sich der Feind der ganze Herden in der Stadt vermeinte ist alles Warten vergebens, und zog ab.

Hier aber hatte man auf die Zinnen der Mauern und Türme zahlreiche steinerne Krieger gestellt. In drohender Haltung, mit Schwertern und Lanzen bewaffnet, stehen sie oben. Damals als Schreck und Schutz, heute als kuriose Erinnerung an eine längstvergangene Zeit, in der sich zwei Brudervölker, Engländer und Schotten, arg befehdeten.

Die Sonne steht schon mittäglich hoch, als ich die vielbogige Brücke, die malerisch den Fluß Tweed überquert, und die nahezu mittelalterliche Stadt Berwick mit ihren alten Giebelhäusern, dem spitzen Kirchturm und den Resten eines Stadtwalles hinter mir lasse.

Ich bin wieder draußen im Freien, auf der Landstraße, die ich so liebe, daß sie mir fast zur Leidenshaft geworden ist. Jetzt aber werde ih ihr untreu. Denn nur zum Greifen nahe lockt an der rechten Hand das Meer.

Querfeldein gehe ih über einige frishge- shnittene Felder, dann über Wiesen, auf denen schwarze, hornlose Rinder grasen. Gleih werde ih am Strand sein, in die daherrollenden Wasser hineinwaten und im weihen, goldenen Sand unter der warmen Augustsonne liegen. Nur noch ein Zaun ist zu übersteigen, eine niedere Mauer zu überklettern und dann eine kleine Anhöhe hinauf. Aber jetzt stehe ih wie erstarrt. Denn kein flaher Strand führt zum Wasser, sondern jäh hört das Land mit einem tiefen Abgrund vor mir auf. Ih weiß niht, ob du je durch ein starkes Fernrohr den Mond betrachtet hast. Niht an die Krater und Mare denke ih jetzt, sondern an den Mondrand. Da siehst du Zacken und Zinnen, grell beleuchtet, in die schwarze Naht des Weltalls hinausgreifen, siehst du, wo eine Welt aufhört und das Nichts anfängt. Das hat mih immer ergriffen.

Ein ähnlihes Bild bietet sih hier. Hier hört ein Land, England, auf und fängt das AM der See an. Es ist das zwar an allen seinen Küsten der Fall. Aber am sanftgeneigten Badestrand wirst du dessen kaum gewahr. Zu friedlich ist der Übergang, zu sehr sind die Grenzen zwischen Land und Meer verwaschen. Doch hier ist kein Übergang, sondern eben ein unvermitteltes Aufhören. Hie Land — hie Meer. Zwei erbitterte Gegner in einem jahrtausendelangen Kampf, von dessen ungeheurer Gewalt dieses Schlachtfeld der Natur zeugt.

Tiefe Schluchten hat das Meer in den Felsen gerissen, harte Wunden geschlagen, um und um, die ganze Küste entlang. Doch das Land hat sich zäh gewehrt und so ragen zahllose Zinken hinaus in die Flut, stoßen spitze Zacken wild hinein in das Blau in ruhlosem Gemenge. Wie eine riesengroße, leichtgekrümmte Säge liegt da eine Bucht vor mir und auf einer ihrer Spitzen stehe ich im hohen Gras, das der Wind leicht und lind wiegt, und schaue hinunter in das dunkle Wasser, das tief unter mir unermüdlich heranrollt.

Langsam gehe ich nun dem Zickzack entlang. Merkwürdig, welche Figuren dieser Kampf geboren hat. Hier hat das Wasser durch einen der Vorsprünge ein richtiges Tor gegraben, da hängt ein bizarrer Block wie eine drohende Faust über der Tiefe und dort sticht eine spitze Nadel aus dem Blau des Wassers hinein in das des weiten Himmels.

Als mit der Erde verwandter Mensch möchte ich diese Nadel gerne als Vorhut, die Klippen als Stoßkeile des Landes im Kampfe mit dem Meer ansehen. Nachhuten sind es aber nur. Zu steil sind die Abstürze, zu tief die Risse und zu bröckelig die Kanten, auf denen der Rasen nur mehr ganz locker auf liegt und dessen hohe Halme’sich allenthalben neigen, um mit dem bißchen Erde, das ihnen das Leben gibt, langsam abzugleiten und dann, heute, morgen oder übers Jahr, nach einem kurzen, tiefen Fall aufzugehen im Abgrund.

Ich setze mich nun, wo das Gras noch fest und tief ist. Und langsam verblaßt vor mir der Eindruck des Kampfes und ich beginne,. das Schöne des Bildes zu sehen. Ir einem satten Gelbrot hebt sich diese vielgescaltige Felswelt vom blauen, sommerlichen Himmel ab. Violette Schatten sitzen in den Höhlen und Rissen der Klippen, auf deren sonnenabgewandten Wänden hellgelbe Lichter, Spiegel der Sonne auf den Wellen, auf und ab tanzen und in verborgenen Nischen blasse Blumen aufleuchten lassen. Möwen schaukeln sich geruhsam unten und bunte Falter flattern an mir vorbei. Leise rauscht die Gischt. In einer köstlichen Einsamkeit liegt diese Bucht, unberührt von Menschenhand und kaum von Men sehen tritt. Hier können Elfen und Zwerge ihre nächtlichen Reigen drehen. Ein richtiges Wunderland ist es, mit den ungezählten Türmen, Kuppeln und Spitzen und den geheimnisvollen Toren, die vielleicht ins Reich des „Es-war-einmal” führen, zu schimmernden Diamantsälen und rotgoldenen Kronen. — Doch das ist das Land der Kinder. Für uns Große führt kein Weg mehr dorthin. In ganz begnadeten Stunden nur dürfen wir seine Eingänge ahnen.

Die Sonne sinkt tiefer, die Schatten drehen sich und ich muß gehen. In meinem Herzen aber geht wieder ein neues, schönes Stück England mit.

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