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Enklave Krakau

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Vor einigen Wochen beherbergte die alte Königsstadt Krakau seltene Gäste. Die Jugend der ältesten hatte die Jugend der jüngsten Stadt Polens, jene von Gdingen, zu einem Fest geladen. Schon bei der Begrüßung gab es auf beiden Seiten Verwunderung, denn die Krakauer bedienten sich einer edlen und gepflegten Sprache, während jene der Gäste von deutschen Brocken durchsetzt war. Jene stammten durchwegs aus dem Milieu eines patriarchalisch angehauchten polnischen Nationalismus, diese waren die Kinder von Eltern, die aus dem ehemals ostdeutschen Gebiet nach Gdingen umgesiedelt worden sind. Zudem waren die Jugendlichen aus Gdingen protestantisch, während sich ihre Gastgeber vor Staunen gar nicht fassen konnten, daß ein Pole auch etwas .anderes als ein Katholik sein könne. Äußerten sich solcherart schon die Merkmale jener Grenzen, die das polnische Volkstum historisch zerteilt hatten, so sollte im Verlaufe der Festtage dieser Unterschied noch viel härter hervortreten.

Die Jungen und Mädel von Gdingen kamen aus einer Landschaft, die von Ruinen und Verwüstung durchzogen war, aus einer Stadt, in der kein Stein älter als dreißig Jahre ist und deren nüchterne Moderne ein erboster polnischer Baumeister einmal als architektonische Mißgeburt bezeidinet hat. Krakau aber, in einem sidi rasch verengenden Tale der oberen Weidisel gelegen, wurde für die Gäste eine schwer verständliche, weil von Gesdiichtsdaten überhäufte Lektion. Die Stadtmauer mit ihren wuchtigen Toren, die Tuchlauben, die Marienkirche und ihr Altar, das Wawelschloß mit dem kapellenreichen Dom, die Grabdenkmäler der Könige, die winkeligen Gassen und wieder die breiten Kastanienalleen, der harmonische Klang der Glocken, der über den Dächern und Türmen hing, dies alles bedeutete für die Menschen aus dem kühlen Norden ein märchenhaftes Erlebnis. Ihnen fiel aber auch auf, daß die Krakauer eine ganz andere Art des Lebens kennen, auch wenn sie dies nur an äußeren Dingen bemerkten. Daß der Ober im Cafe zuerst die Tasse mit den zwei Gläsern Wasser und die Zeitung brachte, ehe er nach dem Begehr fragte, und daß man auf den meisten Speisekarten ein „Wiedenski Sznicel“ oder oft einen „Sztrudel" fand. Man sagte den Gästen auch, daß Krakau vor 1918 nicht Zcj Polen, sondern zu Österreich gehört habe, aber davon verstanden sie nichts mehr. Nur dieser seltsam erregende Abstand von dieser Welt blieb haften.

In der Tat ist Krakau bis in unsere Tage eine Art kulturelle Enklave, die aus der alten Monarchie geblieben ist, ein Refugium von bürgerlicher Gemessenheit, wohltemperierter Etikette und traditionsstolzer Freiheit. Was die Stadt ihren Einwohnern bedeutet, schildert eindringlich die Schriftstellerin Maria Czerkawska: „Als sich im Jänner 1945 die Front näherte, befand ich mich mit zahlreidien anderen Menschen in einem Keller. So viele verschiedene Interessen sie auch besaßen, so hatten wir alle miteinander nur eine einzige, am stärksten verbindende Sorge, wie nämlich unsere Stadt, ihre historischen Gebäude und Türme aus diesem höllischen Tanz des Krieges hervorgehen würden. Nur dieses Moment war entscheidend. So wie eine Mutter ihren heimkehrenden Sohn begrüßt, mit der gleichen Rührung umfing ich am nächsten klaren Jännermorgen das unversehrte Bild der Stadt. Gebannt und in tiefster Ergriffenheit wurde ich mir der Liebe zu diesem uns wiedergeschenkten Heiligtum bewußt.“

Seither verblaßt die Erinnerung an die fünfjährige Kriegszeit in dem Maße, als sich das Gefüge der Krakauer Gesellschaft von der Überfremdung durch Zuwanderer und Flüchtlinge reinigt, normalisiert. Wie vordem hat Krakau heute wieder über 200.000 Einwohner, die Jungen wandeln mit einer konservativen Besessenheit in den Fußstapfen der Alten, ohne leidenschaftliche Exzesse oder hysterische Radikalismen und sogar in einer betonten Distanz zu den lärmenden Geistern auf den künstlichen Barrikaden der Politik. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn Krakau in den Augeij des übrigen Polen- tums geradezu als Einzelwesen angesehen wird. „Die Krakauer haben Glück gehabt", sagt man mit lebhaftem Beneiden in Warschau. Auch haben es die Krakauer nicht notwendig, darüber zu streiten, wer der bessere Pole sei, weshalb sie sich an keiner derartigen Lizitation beteiligen und ein chauvinistischer Nationalismus für sie eine unreine Sache ist. Sie sehen ihre eigentliche Bestimmung in der Wahrung und Mehrung des überreichen kulturellen Gutes, das ihnen in die Hand gegeben ist, und wenn irgendwo in Polen noch ein Blick auf die Verbundenheit mit Europa erlaubt ist, dann in Krakau. Noch hat es die Enttäuschung nicht überwunden, daß es von Pilsudski, dem Wiederbegründer des polnischen Staates, 1918 nicht zur Hauptstadt gemacht wurde und der Marschall ihm zwar seinen Körper, aber nicht sein Herz vermachte, das er in Wilna begraben ließ. Als sich nach dem zweiten Weltkrieg der polnische Marxismus wiederum für Warschau als Metropole entschied, obwohl sich Krakau neuerlich um diese Ehre und Pflicht beworben hatte, war es offenbar, daß es seine Überlegenheit nur mehr durch Geist beweisen konnte. Und doch sind die Krakauer Bürger und Steuerzahler wirtschaftlich picht weniger tüchtig als die Katto- witzer oder Lodscher, auch wenn sie noch keine industriellen Wettbewerbe um Wanderstandarten ausgetragen haben. Ihr Ehrgeiz konzentriert sich mehr auf die Universität und die auf dem Wawel untergebrachte Staatswerkstätte für Denkmalschutz. Um diese beiden Pole kreist ihr Schaffen und Denken mit einer fruchtbaren und talentierten Geschäftigkeit. Es ist für die Interessen der Krakauer bezeichnend, daß ihre Stadt die einzige Theaterzeitung Polens und ein literarisches Tagblatt, „Dziennik Literacki", besitzt. Größer als ein politischer Triumph ist die Genugtuung, daß schon in den ersten Monaten 1945 der damalige Unterrichtsminister auf einer Inspektion die Jagellonen- universität mitten in der Arbeit vorfand und sie heute mit 12,000 Studenten, um 4000 mehr als vor dem Kriege, die Warschauer längst überflügelte. Der Lehrkörper hat während der Okkupation 63 Mitglieder verloren, doch sind wieder 150 Lehrstühle besetzt, und es konnten sogar elf Professoren nach Breslau, acht nach Thorn, vier nach Lodsch, drei nach Posen, je zwei nach Lublin und Danzig, einer nach Pulawa abgegeben werden. Der heutige Ministerpräsident Josef Cyrankiewicz war Krakauer Student, mehrere Minister und Vizeminister sowie drei Botschafter sind aus ihrem Professorenkollegium hervorgegangen. Unter der Obhut der Universität, dieses ältesten Instituts nach Prag und Wien, arbeiten in Krakau ein Pädagogium, eine Genossenschaftsakademie, die Sporthochschule, eine Schule für politische Wissenschaften, eine Schwesternschule und eine Volkshochschule. Eng mit ihr verbunden ist die Bergakademie, das Forschungsinstitut für Erdöl, die Musikhochschule, die Akademie der Wissenschaften und die Akademie der schönen Künste, die eben feststellen konnte, „daß nicht nur in Warschau, sondern auch an den plastischen Schulen in Breslau und Zoppot die Krakauer Künstler den Ton angeben".

Mit nicht geringerer Teilnahme verfolgt die Öffentlichkeit auch die Arbeit der Staatswerkstätte für Denkmalschutz. Ihr obliegt die Bewahrung und Renovierung der kostbaren Kunstschätze, wofür die Stadt und das Publikum schwerste finanzielle Opfer bringen. „Vor allem die architektonischen Denkmäler sind für uns ein zwar schönes und prachtvolles, aber auch sehr kostspieliges Erbe“, sagte unlängst der Universitätsdozent Dr. Dobrowolski, ein Mann vom Fach. So mußte der aus Deutschland auf seinen alten Platz in die Marienkirche zurückgebrachte gotische Flügelaltar von Veit Stoß in die langdauernde Obhut eines Konservators und Seines Helferstabes gegeben werden, denn der Zahn der Zeit hat ihn schwer angenagt. In der Wawelkathedrale werden die russischen Fresken aus der Epoche Kasimirs des Großen, die neuentdeckten Wandmalereien in der Batory-Kapelle, die mittelalterlichen Fresken in den romanischen Kreuzgängen des Augustinerklosters der Vorstadt Kazi- mierz, die Decken- und Wandgemälde von Wyspianski in der Franziskanerkirche erneuert, und wie eine Warnung war die gottlob unbereditigte Empörung der Öffentlichkeit auf ein Gerücht, unkundige Hände hätten die unersetzlichen Mosaike in der Dominikanerkirche beschädigt. Mit ihrem sprichwörtlichen Glück konnten die Krakauer die Jagelianenbibliothek und ihre sechshunderttausend Bände übernehmen, die in einem hochmodern ausgestatteten Gebäude untergebracht ist.

Es scheint, als ob die Sorge um die in den eigenen Mauern erlebte Kunst alle geistigen Energien dieser Menschen aufzehre. Die Politik reizt sie eher nur zu Vergleichen mit früheren Zeiten, und dadurch ist Krakau bei der neuen polnischen Oberschichte in einen bösen Geruch gekommen. Das unparteiische

Lokalblatt „Dziennik Polski“ sagt darüber: „Es hat sich leider die Meinung verbreitet, als ob Krakau die konservativste, ja die reaktionärste Stadt von Polen wäre, die im Gegensatz zu dem roten Lodsch oder dem verwegenen, progressiven Warschau rückständig und ein Bewunderer der Vergangenheit, ja geradezu deren Reservat sei. Man sieht in Krakau nur die verwitterten Mauern, die feudalen Barone (die hier wie Dirigenten eines Orchesters herrschen), verkalkte Pensionisten, die von den goldenen k. u. k. Zeiten schwärmen, und will damit den Eindruck erwecken, es sei bei uns alles beim alten geblieben.“ Nun hatte Krakau wirklich beim Plebiszit 1946 die meisten oppositionellen Stimmen auszuweisen, und die Wahlen 1947 waren zwar ein wenig besser, aber doch nicht so, wie man es in Warschau gewünscht hätte. Der Krakauer gilt demnach als unbekehrbarer Meckerer, der sich diese Stellung auch schon deshalb leisten könne, Weil er unter dem mächtigen Krummstab lebt, den der greise und über alles beliebte Erzbischof Adam Stephan Fürst Sapieha- Kodonski trotz seines hohen Alters von 81 J ähren noch immer fest in der Rechten hält.

. Es mußte also etwas geschehen, um diesem schlechten Rufe entgegenzutreten. Nun hat Krakau entdeckt, daß im vorigen ‘Jahrhundert auf seinem Boden von dem späteren Sejmmarsdiall Ignacy Daszynski die Sozialdemokratische Partei Galiziens gegründet worden war, ein hochwillkommener Anlaß, um diesem verdienten Mitbürger ein Denkmal zu setzen, Als die Hundertjahrfeiern für die Revolution 1848 angingen, kam man darauf, daß Krakau darin eine besonders denkwürdige Rolle gespielt hat, als es schon 1846 mit einem Aufstand vorangegangen war, dem die Angliederung an Österreich folgte. Dieser Krakauer Aufstand wiederum war für Karl Marx, den Apostel des Sozialismus, ein Grund, um den damals auf Krakau bezogenen, heute sehr nützlichen Ausspruch zu tun: „Die Polen haben den ersten Schritt zur Erringung der sozialen Freiheiten getan.“

Wir wissen nicht, was die Jungen und Mädel jus Gdingen nach der Heimkehr ihren Eltern berichtet haben. Die Krakauer sind durch die Praxis mißtrauisch geworden, und in dem abschließenden Artikel eines Krakauer Blattes über den Besuch wird etwas verstimmt gesagt, am schönsten hätten die Gdingener halt doch wieder die neuzeitlichen Häuser um den Bahnhof gefunden. Es sei also zu erwarten, daß man in Gdingen auch fürder Krakau als eine „altväterliche und unmoderne Stadt" betrachte.

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