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Enrica von Handel-Mazzetti

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In den Morgenstunden des Karfreitags hat sich das Leben einer großen Dichterin erfüllt. In den letzten Jahrzehnten wußten wir wenig von diesem Leben hinter den geschlossenen Fenstern des Hauses Spittelwiese Nr. 1. Die Dichterin hatte sich der Welt verschlossen, die Welt, unsere durcheinandergerüttelte, zum Bösen wie zum Guten aufgebrochene Welt freilich, so schien es uns, auch ihr: In der Diskussion über die gegenwärtige Dichtung wird ihr Name auch in Oesterreich heute selbst unter Katholiken nur selten genannt. Die junge, intellektuelle Generation geht eher bei den großen Franzosen und bei den um die menschliche Existenz ringenden Experimentatoren in die Schule als bei ihr. Und doch, als die junge Handel-Mazzetti „Jesse und Maria“ schrieb, gehörte mehr Mut dazu, als wenn heute ein katholischer Dichter in den Spuren Kafkas wandelt oder die „Gefallenheit“ der Kreatur beschreibt. Diese Jugend vergißt, daß die Handel damals jene Mauer durchstoßen hat, die zwischen den gläubigen schöpferischen Menschen und der Welt aufgerichtet war. Nicht zuletzt mit ihren ersten Büchern beginnt jener Aufstieg, der die katholische Dichtung in wenigen Jahrzehnten zur Weltgeltung führt. Denn die politische, die soziale Erneuerung des christlichen Volkes war damals vom Kleinbürgertum getragen, die Intelligenz war noch weithin einem kulturkämpferischen Liberalismus verpflichtet. Im deutschen Sprachraum herrschte der literarische Naturalismus oder ein ästhetizi-stischer Symbolismus, und daß Katholiken, kompromißlose Katholiken, höchstens Traktät-chen, fromme Kalendergeschichten und, wenn es hoch ging, eine „inferiore“ Dichtung liefern konnten, war eine ausgemachte Sache. Die Frage Carl Muths, ob die katholische Literatur tatsächlich „inferior“ sei, war, wenn wir heute zurückblicken, auch berechtigt. Sie mußte und durfte es nicht sein, und nach den ersten großen historischen Romanen der jungen Handel-Mazzetti war sie es auch nicht mehr. An „Jesse und Maria“, an der „Stephana Schwertner“ schieden sich auch im katholischen Lager die Geister. Paul Claudel war wohl drei Jahre älter, er hatte auch bereits 1886 konvertiert. Aber wer in Deutschland ahnte damals, daß gerade im völlig laisierten Frankreich Katholiken als Dichter aufstehen und die Welt erobern würden? Nein, unsere Dichterin hatte kaum ein Vorbild, an das sie anknüpfen konnte, viele Theoretiker und Kritiker standen gegen sie, die Leser freilich standen zu ihr.

Die Themen ändern sich auch dort, wo es allein um die Wahrheit geht. Die Freiheit aller Christen steht für uns heute über dem Streit der Konfessionen, die Würde des Menschen inmitten der Totalität von Systemen, das Ringen um die natürliche und göttliche Ordnung der Werte, das Erlebnis der Gnade inmitten einer weltweiten Verzweiflung, sie berühren uns Heutige tiefer als die Auseinandersetzungen der Gegenreformation. Dennoch, alle diese Elemente einer katholischen Dichtung liegen auch bei der Handel-Mazzetti offen zutage, sie konnte nur nicht ahnen, daß die Folterungen des siebzehnten Jahrhunderts durch die raffinierte Grausamkeit moderner Barbaren in den Schatten gestellt würden. Doch bei der Wertung eines Dichters geht es ja erst in zweiter Linie um die Thematik im einzelnen, also um all das, was da aus der Zeit kommt und in die Zeit eingeht. Entscheidend bleibt, wie er den Auftrag, den seine Zeit ihm stellt, von der ewigen Wahrheit her erfüllt, wie er seine Sprache findet und sie von seiner Persönlichkeit her zum Kunstwerk gestaltet.. Daß Enrica von Handel-Mazzetti dem historischen Roman starke Impulse gegeben und neue Formen geschmiedet hat, ist eine Tatsache der Literaturgeschichte. Daß es bei diesen Romanen bei aller Feinheit des geschichtlichen Details nicht um das bei ihren Nachfolgern übliche Ausschlachten von großen Persönlichkeiten der Geschichte, nicht um billige historische Bilderbogen, sondern immer um Schuld und Sühne und Gnade, also um das menschliche Herz, geht, sollte gerade den katholischen Kritikern stets bewußt bleiben. So betrachtet, wird ihr gesamtes Werk zu einer grandiosen Variation eines zentralen Themas, von „Meinrad Helmpergers denkwürdigem Jahr“ an über „Jesse und Maria“, die „Arme Margret“ und „Stephana Schwertner“, die Sand-Trilogie und die Günther-Novelle bis zu „Frau Maria“, zu einem geschlossenen Gesamtkunstwerk der Sprache und eines Dichterlebens für die Kirche und für Oesterreich.

Als Schöpferin dieses Werkes steht Enrica von Handel-Mazzetti heute vor uns als die Altmeisterin auch der Arbeit und Pflichterfüllung. Die Sorgfalt, mit der sie an ein neues Buch herangeht, die bis ins letzte ausgereifte Komposition und das heiße Bemühen um sprachliche Vollendung, sie wären des eingehenden Studiums gerade durch die jüngere Dichtergeneration wert. Dabei ist es gleichgültig, ob wir unter Epik, unter historischer Epik, die bis ins letzte gekonnte und studierte Sprache der damaligen Zeit verstehen oder nicht. Hier wie überall in der Dichtung gibt es kein allgemeingültiges Rezept. Es kommt immer darauf an, was der Dichter will und wie er seinen Kunstwillen durchsetzt. Daß die Handel-Mazzetti ihren Kunstwillen, ihre Konzeption mit unerhörtem Fleiß, mit einer Feinarbeit ohnegleichen durchgesetzt hat, daran kann niemand, der ihr Werk wirklich kennt, zweifeln. Wem solche Geschlossenheit aber gelingt, der steht auf einem festen Platz in der Literaturgeschichte, ob sich die Zeit nun ihm zukehrt oder von ihm abwendet oder wiederum zu ihm zurückfindet. Er mag von Tageserscheinungen und kaufmännisch gelenkten Bestsellern überrollt werden, sein Werk bleibt auch dann, wenn die Reklamebücher längst wieder vergessen sind und die Moden sich ändern.

Wenn ein Dichter am Ende eines reicherfüllten Lebens von uns geht, hält die stolze Freude über sein Werk der Trauer über den Verlust die Waage. Bedenken wir, daß sie eine der Unseren war, eine Oesterreicherin ohne Pathos, aber dem Herzen nach, wie wir uns den Oesterreicher nur immer wünschen können, vergrämen wir uns nicht an dieser oder jener Eigenart und an dem natürlichen Ablauf der Dinge, der von der Zeit mitbestimmt wird. Das Motto über ihrem ersten Roman: „Magna res est Caritas“ ist zum Motto ihres gesamten Werkes und ihres Lebens geworden. Mögen wesentliche Themen mit den Jahren versinken oder überholt scheinen und andere in den Vordergrund treten, das Thema der verstehenden und verzeihenden Liebe ist zeitlos und gültig in jeder Lage, es ist aber auch das Grundthema der katholischen Dichtung überhaupt. Die Geschichte großer Dichtung ist ja stets die Geschichte des Ringens der schöpferischen Menschen um den Abglanz des Göttlichen in der Welt. Enrica von Handel-Mazzetti steht für uns in der nicht zu großen Schar der demütig Gläubigen und in der noch kleineren der wahrhaftigen Dichter. Was bedeutet da alle Einordnung, Gegenüberstellung, Kästchenerfindung oder mit einer Handbewegung entschiedene Verdammung und Erhöhung gegen das Erlebnis eines schöpferischen Menschen! Ob wir dieser Dichterin noch in allem folgen können, ob der psychologische, historische Roman für uns heute noch jene Bedeutung hat wie für die Menschen vor fünfzig Jahren, darauf kommt es nicht an. Auf die Persönlichkeit und auf das Werk kommt es an, und dieses Werk steht in der Grundhaltung vorbildlich vor uns. Möge jeder christliche Dichter einmal von sich sagen können, was diese wahrhaft tapfere Frau und echte Künstlerin von sich sagen durfte: „Meine Kunst ging unbeirrbar den Weg, den Gott ihr zeichnete, und wankte nicht.“

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