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Katja Lange-Müllers Miniaturen über städtische Biotope.

Mit einem Freund spaziert die Erzählerin der Titelgeschichte bei einem Hamburgaufenthalt an der Alster entlang und gerät wieder einmal in eine Situation, die der passionierten Liebhaberin städtischer Fauna und Flora ans Herz geht. Sie wird Zeugin einer ergreifenden Szene: Ein Erpel taucht immer wieder ins Wasser, um den Kopf einer kleinen Ente aus dem Wasser zu ziehen, bis sie schließlich doch ertrinkt. Die Kommentare des zusehenden Publikums könnten unterschiedlicher nicht sein. Am Ende schämt sich die Erzählerin über ihre "kitschige Variante" der Deutung vom Vater, der sein Kind retten will. Die Lösung eines "penetranten Naturbeobachters" beruht auf einer sexuellen Interpretation. Der Freund hat das letzte Wort: "Selbst wenn es stimmt, richtig ist es nicht."

Richtig ist vieles auch in der Gesellschaft nicht, die Katja Lange-Müller analysiert und beschreibt. Die Erzählungen und Miniaturen ihres jüngsten Buches sind wunderbar präzise Beobachtungen über das Alltagsleben in Berlin, mit einigen Abstechern nach Nicaragua, Hamburg und Boston, wo sie manche merkwürdige Erfahrungen in "einem langen Winter" macht. So kann sich die in Berlin einmal tatsächlich "abgebrannte" Hinterhofbewohnerin, die jedes Silvesterfeuer fürchtet, über die allnächtlichen Feueralarme für die Bewohner des "Buckminster Hotels" nur wundern. Niemand hat für diese Ruhestörung eine Erklärung, doch sie dient immerhin zum Kennenlernen der zeitweiligen Mitbewohner.

Fünf schmale Bücher hat Katja Lange-Müller bisher vorgelegt, in denen die Meisterin der knappen Form und der genauen und dem Doppelsinn der Wörter vertrauenden Sprache, die vor Kalauern und Witzen nicht zurückscheut, ihre eigenen Erfahrungen mit Gehörtem und Erfundenem zu Geschichten verdichtet. Geboren 1951 in Ostberlin, verhält sich die Funktionärstochter unangepasst, kann 1984 ausreisen, lebt seither vorwiegend in Berlin Tiergarten/Moabit, das von den Berlinern "Morbid" genannt wird.

Mitleid, Verzweiflung und Trauer ohne jegliche Sentimentalität bestimmen die Schreibhaltung von Katja Lange-Müller als Chronistin der Randexistenzen der Großstadt, seien es Menschen, Pflanzen oder Tiere. Sie schaut nie weg, sondern immer genau hin - und lebt mittendrin im Biotop ihrer Antihelden. Ironisch und lakonisch entwirft die Poetin des Alltags in ihrem neuen Band tragikomische Skizzen über die Einsamkeit eines Goldhamsters, den Tod eines zerquetschten Spatzen im Kursker Bahnhof oder die Motten in diversen Klamotten. Ihr außerordentliches Wissen über Käfer und Pilze hat Katja Lange-Müller bereits in früheren Büchern bewiesen. Auf ihren Streifzügen durch den Stadtdschungel von Berlin entdeckt die Pilzexpertin auf diversen Friedhöfen den gemeinen Hallimasch und auf Verkehrsinseln den Stadtchampignon, der sich überall zwischen die Pflastersteine zwängt. Dazwischen schieben sich dann noch Erinnerungen an die Wirkungen des Faltentintlings in Kombination mit Wodka, der zu DDR-Zeiten eine Woche Krankenstand garantierte.

Die Autorin erzählt von Menschen, die an den Rändern leben, sozial Deklassierten, Außenseitern. Und sie weiß Bescheid über die biotopischen Zustände in ihrer rund um die Uhr geöffneten Lieblingskneipe "Feuchte Welle" im Moabiter "Sklavendreieck", das so heißt, weil die osteuropäischen Gelegenheitsarbeiter dort verkehren. In der letzten Erzählung ihres Buches beschreibt Katja Lange-Müller eine berührende Zen-Geschichte über "Die Ente in einer Flasche", die sie wenige Tage vor seinem Tod Heiner Müller am Krankenbett erzählt hat. Doch das Geheimnis, wie die Ente in die Flasche gekommen ist, soll hier nicht gelüftet werden.

Die Enten, die Frauen und die Wahrheit

Erzählungen und Miniaturen von Katja Lange-Müller. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 247 Seiten, geb., e 19,50

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