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Entscheidung in Großbritannien

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London, im Mai „Continuous rain in London“, anhaltender Regen in London, hieß es auf jenem Zettel, der die Luftpassagiere über alles auf dem laufenden hält. Und unter „landmarks“: Links der Maschine die Lichter von Margate. Aber bald sind es nicht vereinzelte Punkte, die aus dem Dunkel aufscheinen, eine ganze Kaskade von Licht bricht aus dem regenfeuchten Land, zitternde grüne Bälle, weiße Schwerter mit scharfen Spitzen, Tupfen von Creme und Orange, Trauben von Rot. In diesem Gemisch von Naßgrau und Helle, in das die Maschine langsam abgleitet, leben Millionen Menschen, leben mehr Menschen als in ganz Oesterreich, leben, arbeiten und gestalten ihr Schicksal. In wenigen Tagen aber sollen sie, mit dem ganzen übrigen Land, darüber entscheiden, wer England führen soll, wer für ein Kolonialreich von 70 Millionen verantwortlich zu zeichnen hat, wer die Premiers des Commonwealth zu den Reichskonferenzen einladen darf und wer die Politik Europas maßgeblich beeinflussen wird. Eine gewaltige Verantwortung! Lastet ihr Druck auf dem Land, erhitzen sich die Gemüter an den sich auf tuenden Möglichkeiten, sind die Massen da unten von politischer Besessenheit erfaßt? Werden die Menschen blind, böse, grausam, aber auch opferbereit und einsatzfreudig?

Nun, England ist ruhig wie immer, fast noch ruhiger als sonst, und ein wenig gespenstisch ist diese Ruhe vielleicht. Man sieht kaum Wahlplakate, hört keine kreischenden Stimmen, fühlt nur wenig Leidenschaft, könnte zunächst beinahe glauben, in der falschen Hauptstadt gelandet zu sein. Churchill hat für die vorletzte Wahl das Beiwort „demure“ geprägt, schien sie ihm doch, der noch Auseinandersetzungen shakespearehafter Rüpelhaftigkeit miterlebt hatte, in einer Atmosphäre von Dämmerschlaf und ungesunder Apathie zu verlaufen. Aber die Wahl vom Mai 1955 ist zweifelsohne noch „dämmeriger“, und es ist fast rührend, mitanzusehen, wie auch der kleinste Zwischenfall altmodischer Art — da entfaltet sich über Bevan ein konservatives Banner, dort wird ein konservativer Kandidat aus Arbeiterkreisen an die' Hungermärsche der dreißiger Jahre erinnert — von den Zeitungen aufgepäppelt wird, wie eine Blume vergangener Epochen, deren Leuchtkraft einen seltsam bewegt. Offensichtlich aber hat man es im Grunde keinesfalls mit einem Nachlassen der politischen Vitalität, sondern mit einer völligen Veränderung der politischen Formen und der politischen Ausdrucksweise zu tun, wobei die Fossile der politischen Kunst, nur wegen ihrer Verbindung zu den „mass media“, zu Zeitung, Rundfunk und Fernsehen, nicht völlig verschwinden. Natürlich hat sich diese Entwicklung schon seit längerem angekündigt: Der Bericht über die Versammlung wurde wichtiger als die Versammlung selbst, die Wiedergabe der Rede ungleich bedeutender als sdie Rede, Aber das prekäre Gleichgewicht, das, sich bis jetzt immer noch einstellen wollte, ist offenbar am Zusammenbrechen. Die Wahlversammlung von ehemaligen Kabinettsministern wird von dreißig oder vierzig Menschen aufgesucht, und ich sah einen sympathischen jungen Labour-Kandidaten zu acht Menschen sprechen. ,,Es nützt nichts“, sagte er, sich im „comitee room“ mit einer Limonade erfrischend, „wenn ich das, was ich zu sagen habe, der Presse übergebe, so bringen sie es nicht. Man muß also eine Versammlung haben, auch wenn sich niemand versammeln will.“

Es scheint, daß nur die beiden großen Redner des Landes, Churchill und Bevan, hier eine Ausnahme machen, selbst Attlee sprach in keinesfalls überfüllten Sälen, und es wirkte ein wenig gezwungen, als man dies in einem Textilbezirk einleitend mit der Vollbeschäftigung erklären wollte, um so mehr, als ein zweiter Redner dann über kurzfristige Beschäftigung, ja lokale Arbeitslosigkeit zu klagen begann! Kein Wunder also, daß die Tories ihr Augenmerk vor allem auf das Fernsehen gelenkt haben, daß sich Eden dreißig Minuten lang einer Gruppe von englischen Redakteuren stellte und daß die konservativen Politiker die Einstellung zur Fernsehkamera mit einer Gewissenhaftigkeit üben, als sei in ihrem Innern ein winziges „floating vote“, das durch ein Lächeln oder eine Handbewegung für „Transport House“ oder „Charlton Club“ befruchtet werden könnte.

Daß die Ruhe nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden kann, lernt man im übrigen sehr bald erkennen. Nur liegt die Intensität des Gefühls diesmal auf der unerwarteten Seite. Aber das ist nicht unerklärlich: Die Arbeiterschaft hat vier Jahre konservativer Regierung hinter sich, Beschäftigungsindex und Lebensstandard waren nie höher als in diesem Augenblick. Noch immer mag man der Ansicht sein, daß ein Labour-Regime das Sozialprodukt gerechter verteilen würde — doch soll man nicht übersehen, daß ein konservativer Erfolg nur dann möglich ist, wenn ein Drittel der Gewerkschaftsmitglieder Tory wählen — aber man ist nicht mehr der Ansicht, daß Labour das Sozialprodukt an sich wesentlich vergrößern könnte. Der utopische Reiz des Sozialismus ist nur noch rudimentär vorhanden. Anderseits ist die Abneigung, sich von neuem Reglementierungen und Rationierungen zu beugen, in der nicht-sozialistischen Wählerschaft von einer frappierenden Bestimmtheit. „Lieber auswandern“, ist eine häufige Phrase, und wenn die Drohung auch meist nicht bare Münze ist, sie bleibt kennzeichnend; so hat man weder 1945 noch 1950 gesprochen. Untersucht man die Maßnahmen Attlees in seinen großen und seinen kleinen Jahren, so ist diese Heftigkeit mit bloßer Vernunft vielleicht nicht restlos zu erklären, und der fremde Beobachter kann nicht umhin, sich zu sagen, daß sie eine sehr reale und naheliegende Gefahr verdeckt. Nach allen Untersuchungen der öffentlichen Meinung ist ein Labour-Sieg zwar nicht wahrscheinlich, aber keinesfalls ausgeschlossen. Ausgeschlossen scheint nur eins, daß Labour mit einer massiven Mehrheit ins Unterhaus einzieht. Eine neue Regierung Attlee aber würde in diesem Fall nur mit der Unterstützung Bevans regieren können. Dem Walliser Volkstribun innere Zugeständnisse zu machen, das werden die Gewerkschaftsführer kaum dulden. Also wird die Versuchung sehr groß sein, ihn mit außenpolitischen Kompromissen abzuspeisen. In diesem Fall würde der innere Labour-Disput dauernd im Foreign Office zu spüren sein; was das in den kommenden Monaten großer Entscheidungen bedeuten würde, braucht kaum erörtert zu werden.

Es ist also, nur die schlichte Wahrheit, daß die Wahl Edens eine Wahl für Europa und eine Wahl für den Frieden bedeutet.

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