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„Entscheidung um Europa“

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Ottö von Habsburg über die europäische Neuordnung. Studien und zusammengefaßte Vor- träse. Tvrolia-Verlae. 192 Seiten. Preis 48 S

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Ottö von Habsburg über die europäische Neuordnung. Studien und zusammengefaßte Vor- träse. Tvrolia-Verlae. 192 Seiten. Preis 48 S

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Ein schlicht-schöner Band in tendenziöser Aufmachung mit der Beschriftung: „Otto von Habsburg — Entscheidung über Europa." Der kurze Titel genügt, um aufhorchen zu machen.

Seit Maximilian I. ist kein Haupt des Hauses Habsburg mehr unter die Buchschöpfer gegangen. Maximilians Urenkel, der nun vor die Oeffent- lichkeit tritt, hat für sie keinen „Weißkunig" und keinen „Theuerdank" bereit, keine dichterische Allegorie, kein romantisches Konzept wie sein berühmter Vorfahre. Sein Buch ist eine Sammlung nüchterner, von einem maßvollen Optimismus getragenen Untersuchungen der europäischen Lebensprobleme. Deutlich trägt es den geistigen Stempel der Persönlichkeit des Autors. Er ist durch eine harte Schule des Lebens gegangen. Als Sechsjähriger verfiel der Knabe mit Eltern und Geschwistern der Verbannung aus der Heimat und nach drei Jahren dem Exil auf Madeira, der atlantischen Insel, deren infames Klima ihn 1922 zum vaterlosen Waisen machte. Die Rückkehr in das Vaterland blieb ihm verwehrt. In bescheidenen Lebensverhältnissen auf unruhiger Wanderschaft wuchs er auf, gewann den Abschluß seiner nationalökonomischen und staatswissenschaftlichen Studien an der Universität Loewen mit einem „Summa cum laude". In Berlin, wo er seine wissenschaftliche Ausbildung vertiefte, erregte er Aufsehen durch seine Seminararbeiten. Nun ist dieses Buch da. Schrieb es einer der vielen Dilettanten, die sich um das kranke Europa geschäftig bemühen? Auf solche Weise, wie der Verfasser dieses Buches, wachsen Dilettanten nicht.

Die vorliegende Schrift beruht im wesentlichen auf neun buchmäßig redigierten Vorträgen, die 1951 und 1952 in Deutschland, Frankreich und in den Vereinigten Staaten gehalten wurden; im Zentrum stehen die Referate, die Otto von Habsburg in Paris vor der Gesellschaft für Wirtschaftsgeographie, dann als Gast der Französischen Organisation für die Vereinigten Staaten von Europa, „La Federation", sowie in Bonn vor dem Bund deutscher Föderalisten erstattete. Er behandelte in diesen Vorträgen die Weltstellung Europas, die Grundsätze des Aufbaues und der europäischen Bedeutung des Donauraumes. Mit Entschiedenheit bekennt sich Otto von Habsburg zu dem Aufbau der europäischen Einheit, die eine kulturelle, geistige und wirtschaftliche und erst in zweiter Linie eine politische sei. Die ganze Bedeutungsschwere einer solchen Neuordnung trete, wie er nachdrücklich auseinandersetzt, dann in Erscheinung, wenn man an die Einzelheiten der Neuordnung des der westlichen Kultur angehörenden Europas herangehe: Die erste lebenswichtige Frage werde sich gleich nach der Befreiung der kleinen Nationen und Länder der europäischen Mitte und des Ostens stellen: Müssen sich diese kleinen politischen Einheiten einzeln der europäischen Union anschließen, oder sollen sie vorher regionale Verbände bilden? Die Untersuchung stellt mit Betonung den Grundsatz heraus, daß „die Organisation der regionalen Föderationen den Beitritt der interessierten Staaten zur Europaunion voranzugehen hat." Ein sehr ernstes Argument stützt diese Ueberzeugung: „Wenn einigen Mächtigen erster Ordnung — wie Frankreich und Deutschland — ein Schwarm kleiner Staaten gegenübersteht, werden die Großen versuchen, sich eine Anhängerschaft zu werben. Es würde eine ständige und sehr gefährliche Rivalität entstehen. Dagegen würden Bünde, die die kleinen Staaten vereinen und sie somit auf gleiche Stufe mit den großen Mächten stellen, der Union einen zuverlässigeren Bestand geben und verhindern, daß die Konkurrenz der großen Mächte zerstörend wirke."

Otto von Habsburg legt hier den Finger auf eine der empfindlichsten und gefährlichsten Stellen des Europaunionplanes. Die Folgerungen sind schlüssig: Würde die Freiheit der kleinen Nationen nicht vor der Proklamierung einer Europaunion durch gruppenweise geschaffene Föderationen der kleinen Völker und ihrer staatlichen Gemeinwesen in Mitteleuropa, auf dem Balkan und auch im Raume von Polen und den Baltikumstaaten gesichert, so würden diese kleinen Einheiten bei der Umbildung Europas in den Stromkreis der Starken geraten und zum Herd neuer Konflikte werden, wahrscheinlich würden die aufbrechenden Gegensätze das Werden der europäischen Einheit überhaupt in Frage stellen. Es ist ein Verdienst der vorliegenden Studie, diese kritische Seite der Europaplanung entschleiert zu haben. Nicht darauf kommt es an, ob morgen oder übermorgen die aufgezeigten Eventualitäten eintreten, sondern darauf, daß die Planung Europas aus länger Sicht der Gefahr vorbeuge, im Momente des Erfordernisses überrascht und unvorbereitet der eigenen Ziellosigkeit zu verfallen. Nicht umsonst sägt die vorliegende Studie, Straßburg sei zu einer schweren Enttäuschung geworden: „An Stelle der notwendigen Dynamik finden wir einen zaghaften, aus Gewohnheit und Routine handelnden Organismus. Er ist keine neue Kraft, die zum Sturme ansetzt, sondern eine internationale Bürokratie ohne Seele und Initiative."

Ein anderes wichtiges Problem, sogar das kardinale der Neuordnung Europas, erblickt Otto von Habsburg in der „deutschen Frage", die niemals durch gewaltsame Expansion, sondern durch friedliche Eingliederung in eine größere Gemeinschaft zu lösen sei. Hier sieht er eine wichtige europäische Aufgabe des Donauraumes, des logischen ökonomischen Partners des deutschen Raumes. Die Zusammenarbeit der beiden muß gewährleistet sein durch die politische Unabhängigkeit jedes Partners. Und hier sagt der Verfasser von Oesterreich, dem natürlichen Teilhaber dieser Partnerschaft, es sei „mehr als ein Teil einer Nation, es ist auch keine Nation an sich, sondern einer der wesentlichsten Funktionsträger der abendländischen Gemeinschaft". Oesterreich, das untrennbar mit seiner natürlichen Umgebung und anderseits auch dem deutschen Raum unzerreißbar verbunden ist, offenbare dadurch seine wichtige abendländische Rolle, Brücke Zu sein zwischen West und Ost, zwischen Deutschland und dem Donauraum unter Wahrung seiner Eigenheiten und „Garant dafür, daß diese Zusammenarbeit niemals zur Vorherrschaft dės einen über den anderen führen wird".

In dem zweiten Teil der vorliegenden Studien „Grundsätze des staatlichen Lebens" spricht aus dem Verfasser der Rechtsphilosoph und soziologisch geschulte Jurist, der die Endphase des. Kampfes zwischen Totalitarismus und der menschlichen Freiheit angebrochen sieht.

In stahlblank geschliffener Schönheit stehen hier die Sätze:

„Der Mensch hat Rechte, die höher Als die des Staates stehen’ und die der Staat nicht anrühren darf. Daher gibt ės keinen unbeschränkten Gesetzgeber; auch der Geset -

geber ist Gesetzen unterworfen, die größer sind als er.“

„Das Hauptobjekt der Freiheit ist der Mensch, das Individuum. Bei seiner Geburt ist er mit Rechten ausgestattet, die ihm die Kollektivität nicht nehmen kann: den Naturrechten. Der Mensch als Urfaktor, als Träger des Naturrechtes ist befugt, all jene Funktionen auszuüben, zu denen er befähigt ist. Der Staat darf erst einschreiten, wenn der Mensch oder seine natürlichen Gemeinschaften diese auf keinen Fall übernehmen können und wollen."

„Die erste Richtlinie einer jeden Sozialpolitik muß die Sicherung des Lebensrechtes des Menschen sein. Es ist das erste und bedeutendste Recht des Menschen. E s hat unbedingte Vortritt gegenüber dem auf Besitz. Dieses Lebėnsrecht heißt, richtig verstanden, auch das Recht auf die Gründung einer Familie und standesgemäße Kindererziehung.

Die Atmosphäre des Buches ist erfrischend. Der Mut, mit dem hier die großen Schicksalsfragen Europas sachlich angesteuert und Lösungen gesucht werden, sollte auch die vielen aufrichten, die aufgehört haben, über die Zukunft nachzusinnen und nach vielen Enttäuschungen apathischer Hoffnungslosigkeit sich hingeben möchten. Nicht zuletzt werden die Großen daran erinnert, daß sie das neue Europa nur bauen werden, wenn sie die Lebensrechte der Kleinen achten. Nach der Schar der Planlosen, die von Plänen reden, endlich einer, der einen Plan hat, der in die Zukunft weist. Hier redet und kämpft ein moderner Mensch im Einsatz für die höchsten Güter, ein Christ und Oesterreicher aus hellen, weltweiten Horizonten.

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