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Digital In Arbeit

Entschleunigt Euch!

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Die Zeit läuft uns davon und wir hetzen hinterher und versuchen, sie mit Terminplanern einzufangen und mit Zeitmanagement zu zähmen, um dadurch jene Zeit zu gewinnen, in der wir all das machen würden, was wir wollen, wenn wir nur könnten ...

Alles verkehrt, meint Karlheinz A. Geißler in einem Buch, in dem er seinen gehetzten Mitmenschen die Ent-schleunigung empfiehlt: „Zeit ist nicht knapp und Zeit vergeht auch nicht. Vielmehr vergehen wir in der Zeit - das aber verdrängen wir gerne dadurch, daß wir die Zeit vergehen lassen." So lautet seine These, die er mit vielen litararischen Zitaten in seinem klug aufgebauten Buch plausibel untermauert.

Damit dreht er die Machtverhältnisse einfach um: Nicht der Mensch ist Gefangener der Zeitraster, sondern es liegt an ihm, seine „Zeit" für sich zu verlangsamen, zu beschleunigen, zu füllen oder zu leeren. Indem der Autor an den natürlichen Rhythmus jedes Menschen jenseits von Wecker, Mittagspause und Dienstschluß erinnert, an „schnellebige" Phasen oder unendlich langsam verrinnende Sekunden, macht er deutlich, worum es ihm geht: Zeitkontrolle ist Kontrolle über Menschen. Sie wird im Wirtschaftsleben sozusagen als gottgegeben dargestellt, doch wie die Diskussion um flexible Arbeit auch an Sonn-und Feiertagen beweist, sind wir von einer solchen Kontrollierbarkeit weit entfernt.

Den modernen Management-Parolen von effizientem Zeitplanen und all die komplizierten Methoden, mit denen der erfolgreiche Mensch von heute endlich seine Zeit „in den Griff kriegen" soll, entlarvt Karlheinz Geißler als kontraproduktiv, „denn am Ende aller Anstrengungen, die Zeit bis ins kleinste zu organisieren, steht doch die erfolglose Suche nach der gewonnenen Zeit". Weder kann man Zeit besitzen, noch kann man sie in den Griff kriegen. Und nicht die Zeit kann beherrscht werden, sondern nur Menschen, die sich als perfekte Dienstnehmer nach Möglichkeit in Präzisionsuhren verwandeln sollen, um nicht von der eigenen inneren Uhr in ihrer Produktivität und Effizienz „gestört" zu werden.

Geißlers Buch ist ein Plädoyer, sich diesem Diktat nicht zu unterwerfen, denn „die Stunden, die zählen, sind die Stunden, die nicht gezählt werden". Er singt ein Loblied auf die völlig in Vergessenheit geratenen Tugenden des Trödeins, des Wartens, des Herumflanierens, des ungeplanten „süßen Nichtstuns" und zeigt, daß es auch im modernen Großstadttreiben diese Pausen gibt, die es auszuloten gilt, um nicht im „Zeitstrudel" fortgerissen zu werden. Schulpausen, Ferien, Urlaub und Wochenenden sollten als „Zeitinseln" erhalten bleiben und nicht mit „Freizeitaktivitäten" verplant werden, denn - so zitiert er Laotse: „Im Nichtstun bleibt nichts ungetan".

Man nimmt dieses Buch als eine Art „Ratgeber" gern zur Hand. Der Autor lehrt als Professor für Pädagogik in München. Man ist positiv überrascht von Rhythmus und Melodie, seiner sprachlichen und gedanklichen Intensität und seiner Begeisterung für die Entschleunigung des Lebens, die er als überlebenswichtige Tugend ins Bewußtsein holt. Es ist ein mutiges Buch wider den „Zeitgeist", das tatsächlich die aktuellen Diskussionen um flexible Arbeitszeiten und gekürzte Schulferien um viele Dimensionen bereichert.

All jene, die mit dem Geschwindigkeitsrausch unserer modernen Welt nie wirklich mitkommen und auf ihren Umwegen, Pausen und Phasen der scheinbaren Ineffizienz beharren, ist das Buch ein labsal für die Seele. Der Text, aber auch die Illustrationen, der Bilderzyklus „Zeitlang im Moor" (Torfarbeiten des Münchner Künstlers Karl Weibl), erschließen sich dem Leser und Betrachter mit der Zeit in verschiedenen Facetten. Insofern eignet sich dieses Buch auch dazu, immer wieder hin-einzulesen und innezuhalten, um sich selbst zu „entschleunigen".

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