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Entsiedlung des Dorfes

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Poststempel einer kleinen Berggemeinde in Vorarlberg: Damüls, 1400 bis 1700 Meter, Wintersportplatz und Erholungsort. In der Mitte ein Bild: eine wuchtende kleine Kirche, hinter der hohe Berge aufragen. Ein paar Häuser ducken sich gleichsam in den Schutz der Kirche. Einige flüchtig angedeutete Wettertannen weisen auf die hohe Lage hin.

Das Bild weckt vielerlei Gedanken, die Jahrhunderte umspannen. Denn Wintersportplatz und Erholungsort ist das Dorf, verglichen mit seiner langen Geschichte von ungefähr 600 Jahren, erst seit gestern. Generationen von Walser Geschlechtern kamen und gingen, Tannen wurden gefällt und andere wuchsen nach, das Dorf blieb scheinbar gleich in seiner Einsamkeit bis es vor wenigen Jahren der Wintersport entdeckte.

In Wirklichkeit hatte sich manche Wandlung vollzogen, deren größte die Entsiedlung darstellt. Man muß es schon Flucht von der Heimat nennen, wenn ein Schematismus vom Jahre 1872 noch 472 Seelen aufweist, während die letzte Zählung nur mehr 217 angibt. Wie ist das gekommen?

Damüls ist, wie das Große und Kleine Walsertal in Vorarlberg, eine alte Walliser Siedlung, die auf das Jahr 1313 zurückgeht, als Graf Rudolf von Montfort- Feldkirch die ersten Siedler mit der Alpe Ugen belehnte. Von hier aus hat sich das Dorf nach der Tiefe hin ausgebreitet. Es ging bald an ein Schwenden, da die ausgedehnten Waldungen nur ein Hindernis für die Vieh Wirtschaft darstellen. Noch heute gibt der Name der Parzelle „Schwende“ Kunde davon.

So fiel Stamm um Stamm im Laufe der Jahrhunderte. Die Berglehnen wurden immer kahler. Für Nachwuchs zu sorgen, fehlte das Interesse, und so wurden die Bewohner des Dorfes eines Tages gewahr, daß sie „ob Holz“ waren, das heißt, daß ihre Behausungen über der Waldgrenze lagen und daß sie das Holz für die Öfen und Sennkessel mühsam bergaufschleppen mußten.

Mit der Rodung der Wälder ging auch eine verhängnisvolle klimatische Veränderung vor sich. Der Boden war nicht mehr so fruchtbar wie damals, als noch geschlossene Wälder Schutz gegen Wetter und Lawinenstürze boten. Noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts gab es eine Dreschtenne und eine Mühle, und Gerste wurde noch bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts angepflanzt.

Man braucht nur wenige Kilometer weiter nach Osten zu wandern, über die Wasserscheide zwisdien Rhein und Donau, um denselben Vorgang zu sehen, nur daß er dort schon zur vollständigen Entsiedlung geführt hat, „weil die Ver- möglicheren von der so großen Wildnis wegsiedelten und also weniger Ehen möglich wurden“, wie es in dem amtlichen Berichte eines der letzten Kuraten aus dem Jahre 1834 heißt. Das ist Hoch- krumbach.

Wanderte ein Damülser über den Faschinapaß nach Süden ins Tal der 111 oder über die Furka im Westen ins Rheintal, fand er, daß dort die Lebensverhältnisse weitaus weniger mühsam waren, daß dort Getreide wuchs und im Rheintal sogar der Wein gedieh. In neuerer Zeit sieht er, daß man dort die Landwirtschaft auch mit Maschinen be-

treiben kann, daß man auf ebenem Boden mähen, wenden und ackern kann, während er seine ganze Landwirtschaft mehr oder weniger mit Arbeitsgeräten betreiben muß, wie sie schon von seinen Vorfahren vor Jahrhunderten benützt wurden. Und der Ertrag ist nicht bloß großer, sondern auch leichter abzusetzen, und man verdient das Geld einfacher als in der hohen Berglage seines Heimatdorfes auf 1450 Meter. Außerdem sind auch die Erholungsmöglichkeiten vielgestaltiger.

Es geht eine fröhliche Mär aus alter Zeit. Als Kaiser Maximilian einst in Feldkirch weilte und sich am Ardetzen- berger gütlich getan habe, seien auch einige Damüler dabeigewesen. Da hätten sie gesagt, sie seien zwar Bischöfe (Bischof ist ein weitverbreitetes Geschlecht in Damüls), aber wenn sie noch einmal auf die Welt kämen, möchten sie lieber Kaiser werden, dann müßten sie nicht bloß Milch und Schotten trinken.

Muß man sich da wundern, daß mancher dem Dorfe Lebewohl sagte und sein Fortkommen in leithteren und bequemeren Möglichkeiten suchte? Solange das Wasser abwärts fließt, werden die Menschen immer den leichteren Erwerbsmöglichkeiten im Tale nachgehen, und nur die größten Idealisten wird die Liebe zur väterlichen Scholle auf dem kleinen Berghof halten.

Es sind daher alle wirtschaftlichen und finanziellen Bestrebungen zu begrüßen, die das Leben des Bergbauern in den höchsten Lagen einträglicher und leichter zu gestalten vermögen, aber sie allein werden das Problem nicht lösen, weil es nicht bloß ein wirtschaftliches, sondern ebenso ein ethisches ist. In der Zeit nach 1938 wurde Damüls unter die Aufbaugemeinden eingereiht, aber die Situation hat sich dadurch nicht wesentlich geändert, wenn auch da und dort eine Er-

leichterung eintrat. Die Nivellierung schreitet fort. Darüber kann sich niemand einer Täuschung hingeben, der sich nicht ein Phantasiebild von der Wirklichkeit macht.

Die Abholzung der Wälder kann man als wirtschaftliche Entsiedlung bezeichnen. Es gab auch eine künstlerische.

Der bekannte Kunsthistoriker Propst Weingartner von Innsbruck schrieb 1911: „Eine Pfarrkirche, die 1431 Meter hoch liegt, gehört selbst in den Alpen nicht zu den alltäglichen Dingen. Und so bannt denn auch Damüls mit seinem beinahe an der Baumgrenze aufragenden Gotteshaus dem Wanderer in seltsamer Stimmungskraft eine versunkene Siedlungszeit vor die Seele, die schlichter, kräftiger und abgehärteter war als die unsere. Trotzdem wird kaum jemand erwarten, an und in der Damülser Kirche so viel Altertümliches zu finden, als tatsächlich vorhanden ist.“

Und es war einmal noch viel mehr vorhanden. Es berührt eigenartig zu wissen, daß von den gotischen Altären, die einst das Kirchlein schmückten, sich heute zwei in Berlin befinden (wenn sie nicht im letzten Krieg den Bomben zum Opfer gefallen sind) und daß ein Renaissancetabernakel aus der späteren Zeit im Heimatschutzmuseum zu Feldkirch steht. Dort sind die Gegenstände gleichsam entwurzelt, während sie hier mit Bergen und Menschen verbunden waren, und wenn es dem Vorarlberger Landesmuseum seinerzeit auch gelungen wäre, die gotischen Flügelaltäre zurückzugewinnen, wären sie dort entsiedelt, während sie hier im Heimatboden gestanden wären.

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