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Entwürfe zu einem Ich

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BIOGRAFIE: EIN SPIEL. Von Max Frisch. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt. 1X1 8. DM 5.80.

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BIOGRAFIE: EIN SPIEL. Von Max Frisch. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt. 1X1 8. DM 5.80.

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Max Frischs neuestes Bühnenstück steht thematisch in spannungsreicher Wechselbeziehung zu seinen Romanen: „Stiller” (1954), „Homo Faber” (1957) und „Mein Name sei Gantenbein” (1964). Frisch rührt in seinen Romanen (sie gehören zu den wichtigsten Dokumenten der deutschen Literatur der fünfziger und sechziger Jahre) an ein hochbrisantes Jahrhundertproblem, an den sehr zeitgemäßen Vorwurf der Ich-Flucht, des Überdrusses an einem verkümmerten Selbst, das seinen Träger nur belastet, statt ihm Sinn und Gewißheit zu geben. Auf der Bühne dem epischen Drama verschworen, profitiert Frisch als Romancier von seinem Doppeltalent: er spricht aus jedem seiner Geschöpfe und dirigiert sie um die geheime Achse des Existenzproblems, das er sich aufgegeben hat: von den Schwierigkei ten und der Ortlosigkeit des Men- in dieser Welt.

Der Bildhauer Stiller will seinem verpfuschten Leben entfliehen, nachdem er in den Ehen gescheitert, in der Kunst ein modernistischer Dilettant geblieben ist, während des Bürgerkriegs in Spanien politisch versagt hat. In der Konfrontation eines Menschen mit sich selbst, stehen die entscheidenden Sätze: „Wie soll einer denn beweisen können, wer er in Wirklichkeit ist!” und „Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben.” Es ist nicht nur Stiller, der seine Wirklichkeit sucht. Auch „Homo Faber”, der Mensch der exakten Wissenschaft und der Technik, hat keinen Schlüssel zum Dasein. In den gründlichen Bekenntnissen eines Einzelnen, die kein Privatfall sind, sondern eine Epoche verraten, fragt der apparatgläubige Spießer Walter Faber einen ändern: „Sind Sie Walter Faber?” Das ist das Bild eines zerstörten Lebens, und er überblickt es. Darum bestimmt er im Testament: „Alle Zeugnisse von mir, wie Berichte, Briefe, Ringheftchen, sollen vernichtet werden, es stimmt nichts.”

Wie Stiller rebelliert der Mann, der sich Gantenbein (und anders) nennt, gegen das Diktat einer vermeintlichen unabänderlichen Lebensrolle. Dem ungestümen „Ich bin nicht Stiller” des älteren Romans steht nun die vorgestellte Wunschexistenz „Mein Name sei Gantenbein” gegenüber. Stillers vergeblicher Versuch, eine an seinen Namen geknüpfte Vergangenheit abzustoßen, entsprang seinem Willen, ein „anderes Leben” zu leben.

Eben diese Existenzerfahrung, meint Frisch, möchten wir entsprechend unserem Lebensgefühl auch im Theater erleben. Denn, erklärte er in seiiner Schiller-Preis-Rede von 1965 „… wo immer sich Leben abspielt …, summiert es sich aus Handlungen, die oft zufällig sind, und es hätte immer auch anders sein können, es gibt keine Handlung und keine Unterlassung, die für die Zukunft nicht Varianten zuließe. Der einzige Vorfall, der keine Variante mehr zuläßt, ist… der Tod.”

.. diese und diese Fabel bedeutet niemals, daß mit den gleichen Figuren nicht auch eine ganz andere Fabel hätte stattflnden können, eine andere Partei als gerade diese, die Geschichte geworden ist, Biographie oder Weltgeschichte.” — „Das Gespielte hat einen Hang zum Sinn, den das Gelebte nicht hat.” Die Dramaturgie der Zufälligkeit”, der gelebten und ungelebten Möglichkeiten, die Frisch im Gegensatz zur „Dramaturgie der Zufälligkeit”, der Rede forderte, läßt sich als theore tische Fundierung seines neuen Stückes „Biografie” verstehen.

„Es wird gespielt”, sagt Frisch in den Anmerkungen zu dem Stüde, „was je nur im Spiel überhaupt möglich ist: wie es anders hätte verlaufen können in einem Leben.” Es geht um den Versuch eines Menschen, seine Biographie nachträglich zu verändern; um die Denkaufgabe (die sich jeder schon gestellt hat) — wenn ich die Möglichkeit hätte, noch einmal zu beginnen, was würde ich anders machen? Das durchlebte Leben sozusagen als „ersten Ent wurf”, zu dem das zweite „die Reinschrift” bilden würde.

Auch der Durchschnittsintellektuelle Kürmann, die Hauptfigur des Stückes, glaubt zu wissen, was er ein zweites Mal anders machen würde. Er erhält von dem „Registrator” die Erlaubnis, andere, neue Lebensmöglichkeiten zu reflektieren und zu erproben. Der Registrator hat vor sich auf dem Tisch das Buch, in dem die Tatsachen aus Kürmanns gelebtem Leben verzeichnet stehen, der ihn erinnert, wie es wirklich war, ihn auf die Folgen neuer Entscheidungen hinweist, die Irrtümer korrigiert und Erinnerungslücken stopft. Er ist kein besserwissender Regisseur, kein reineres Gewissen, überhaupt keine „metaphysische Instanz”, sondern eine Kunstfigur, die ebensogut als ein objektivierter Teil Kürmanns aufgefaßt werden kann. Wenn er eine Instanz vertritt, dann die des Theaters, „das gestattet, was die Wirklichkeit nicht gestattet: zu wiederholen, zu probieren, zu ändern … eine Variante zur Realität, die nie auf der Bühne erscheint”, wie Frisch in den Anmerkungen schreibt. Wie die Ich-Sucher Stiller und Gantenbein durchläuft Kürmann jede Periode seines Lebens noch einmal, um es im Sinne eines „kühneren” Entwufes zu verändern. „Insofern bleibt das Stück immer Probe”, schreibt der Autor. Gemeint ist eine Probe ohne Ergebnis. Denn Kürmann, der neu wählen zu können glaubt, kann nicht anders sein; sein „Format” liegt fest. Darum steuert er in immer die gleichen Verhältnisse und Verhängnisse hinein — bis zum letzten unabwendbaren, unabänderlichen Ende.

„Biografie”: Ein Spiel. „Ich habe es als Komödie gemeint”, heißt es im Nachwort, wohl im Hinblick auf Kürmanns komisch verzweifelte Anstrengungen, nicht immer dieselben Dummheiten im Leben zu begehen. Ist hier nicht nur individuelles, privates Schicksal im Spiel, oder richtiger der Entwurf zu einem solchen? „Es ist nicht Zeit für Ich-Ge- schichten” heißt es im „Gantenbein”, angesichts des Unheils, das es abzuwenden. einer Welt, die es zu verändern gilt. Aber Frisch fügt hinzu: „Und doch vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst.” Er ist hier bei seinem ureigentlichsten Thema.

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