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Episoden aus meiner Oastwirtsseit

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Das Alter lebt von Erinnerungen. Sie gleichen manchmal in ihrer Klarheit einem Wiedererleben. Freilich, wenn ich in meine Wirtsjahre zurücksteige, frage ich mich manchmal: Warst du das wirklich?'So grundverschieden waren Reife-und Alterszeit von jenen Jugendfristen. Wenn ich jedoch mir vergegenwärtige, wie einmal, während meiner Lehrzeit im Hotel Beau Rivage in Genf, eine alte Dame, die ich zu bedienen hatte, mir ein goldenes Zehnfrankenstück in die Hand drückte und sagte: „So! Nun machen Sie aber nicht immer ein so trauriges Gesicht!“ so will mir sein, es habe schon damals eine Art Poetenwehmut, wie sie den Mann und Greis bewegte, den Kellnerlehrling beschwert.

Wehmut wäre freilich am Platze gewesen, als meine Ungeschicklichkeit mir die erste Ohrfeige eintrug. Man setzte sich damals zur Table d'hote an lange Tische. Jedem Kellner, der an der hufeisenförmigen Tafel zu bedienen hatte, zeichnete mit einem Kreidestrich am Boden der „Ober“, wo er, der ja acht Gästen die Platte zu reichen hatte, im genauen Wechsel beginnen und enden mußte. Mir fiel an diesem Abend der Dienst an der Wölbung des Hufeisens, also der Beginn einmal zur Linken, einmal zur Rechten zu. Die Mahlzeit bestand damals noch aus sieben Gängen.

Im nagelneuen Frack hatte ich durch die ersten vier durchgedient. Mit dem fünften (Poulet de Bresse auf schwerer Silberplatte, in der rechten Hand die silberne Salatschüssel) schwang ich mich wieder meinem Kreidestrich zu, als das Klingelzeichen des „Ober“ wieder den Servicebeginn anzeigte. Im letzten Augenblick bemerkte ich, daß ich zu weit gegangen und auf der Diesseite fällig war. Ich drehte mich, schwinge mich. Aber, o Himmel, die Salatschüssel kommt ins Schwanken. Im Bemühen, ihr Fallen zu verhüten, drücke ich hier die Huhnplatte, dort den Salat an meinen Busen. Hier rinnt es braun, dort ölig über meinen Staatsrock, und die Huhnbrocken und Salatblätter regnen zu Boden.

Schon steht indessen der „Ober“ hinter mir. „Raus!“ schmettert er mich an, und begossen von Schelten wie von Saucen, fliehe ich ins Office, wo mir eine Ohrfeige des Vorgesetzten mein Ungeschick noch einmal zum Bewußtsein bringt. Zum Trost hing mir ja noch ein zweiter Frackanzug im Schrank. Und mein Sonderfreund, der erste Chef de cuisine, steckte mir eine Stunde später als Entschädigung eine Achtgästeportion Fruchteis zu. Es blieb nichts davon übrig.

Die Lehrjahre nahmen weiter ihren Gang.

Als Sekretär im Hotel de la Ville in

Genua erlebte ich das große Riviera-Erdbeben, das dort zweitausend Menschen das Leben kostete und auch in die mächtigen Mauern unseres Hauses, des ehemaligen Palastes des Fiesco, Risse sprengte.

Einige Jahre später erst und nach einem Aufenthalt in England kam ich als Mitarbeiter meiner Eltern in die Bahnhofsrestauration Göschenen. An Abenteuern fehlte es auch da nicht, und da in diesem kleinen Aufsatz flüchtige Erinnerungen festgehalten werden sollen, 6ei aufs Geratewohl beim Zipfel genommen, was mir just durch die Gedanken spaziert. — — —

Eines Tages stand ich, den Vater zur Rechten, die Mutter zur Linken, unter einer der Speisesaaltüren, als ein Bummelzug einfuhr und auf dem Geleise dicht vor uns zum Halten kam. Ein Mann entsprang ihm und trat in etwas feindseliger Haltung auf meinen Vater zu.

„Herr Zahn, kennen Sie mich noch?“ sprach er ihn an.

Mein Vater besann sich, lächelte und erwiderte: „Ei ja! Castule, Sie waren doch Spüljunge bei mir.“

„Ja“, gab der andere zurück, „und erinnern Sie sich auch noch, wie Sie mir einmal eine Maulschelle gaben?“

„Ei freilich“, lachte mein Vater nun erst recht hell und vergnügt auf. „Sie haben aber ein gutes Gedächtnis!“

„Das habe ich“, entgegnete mit Bitterkeit und Schärfe der andere, .und die

Schelle, die bekommen Sie jetzt zurück.“

Im gleichen Augenblick holte er zum Schlage aus.

Ich stellte mich abwehrbereit vor den Vater hin. Die Eltern aber, wohl um weitere Tätlichkeiten zu verhüten, faßten, der Vater den rechten, die Mutter meinen linken Arm, und während ich so wehrlos blieb, sauste mir des Fremden Schlag ans Ohr. Schon aber pfiff der Zug. Der Fremde sprang aufs Trittbrett, winkte spöttisch und verreiste für den Rest unserer Tage.

War uns da ein Unversöhnlicher begegnet, so brachte jeder Tag uns neue Muster der seltsamen Reisenden, die Gott durch seine Welt sendet, etwa den Mann, der aus dem Speisewagen zu uns hereinstürzt und nach einem Arzt schreit, weil er eine Fischgräte verschluckt habe und sicher sterben müsse, oder die Dame, die mit zwei wohlgewachsenen und ausstaffierten Begleiterinnen von vielleicht 16 und 17 Jahren den Speisesaal betritt und sich erkundigt, wie hoch an der Table d'hote Kinder berechnet würden. Auf die Gegenfrage, wie alt die Kinder seien, antwortete sie beleidigt und auf die rundlichen Begleiterinnen weisend: „Das sind sie doch, meine Kinder!“

Ähnlich auf Einsparungen bedacht mag wohl die Familie gewesen sein, von der ich zu meinem Staunen am selben Speiseplatz bei der Suppe die Mutter, beim Fisch der Vater, beim Fleisch einen Sohn, beim Huhn eine Tochter sitzen, bei der Süßspeise aber alle einander ablösen sah.

Mit heimlichem Lächeln gedenke ich auch jener frühen Tage, da der Wirt zum Schreiber und, vielleicht um der Seltenheit der Verknüpfung beider Berufe willen, eine Art Sensation geworden war. Da quell aus manchem, nur kurz haltenden Zug eine Flut junger Mädchen mit der Bitte um Autogramme in den Saal. Da rief mich eine Dame an: „Sie, drehen Sie sich, einmal um, damit man das Unikum auch von vorne sieht!“ Da wünschte eine Gruppe von Ausländern den berühmten Schweizer zu sehen, und hieß ich einen zufällig bei mir zu Besuch weilenden Freund an meiner Stelle vor ihnen Parade laufen. Da saß im überfüllten Speisesaal, während ich oben die Kellnerschar dirigierte, weit unten ein Kunde, der über alle Tische mich anschrie: „Sie! Sie sind doch der, der die Bücher schreibt! Bringen Sie mir eines, ich will es Ihnen abkaufen!“

Ja, seltsame Kostgänger hat manchmal solch ein Wirt. Aber warum sich wundem über die Buntheit des Lebens, in das, um seiner Interessantheit willen, hineinzugreifen schon Goethe uns gemahnt hat? Von diesem Leben und seinen Sonderlingen zu künden, habe ich ja seither immer wieder versucht. Mag mir auch dieser kleine späte Seitensprung verziehen sein.

Wichtig war und bleibt dem Alten trotz aller Enttäuschungen die Begegnung mit den Zeitgenossen. Nur wie jene Dame in meiner Jugend zu mir, möchte ich zu jedem sagen: „Drehen Sie sich mal um!“ Und eines möchte ich jedem ins Gewissen reden: „Vergiß nicht deine und unser aller Vergänglichkeit und welche Narren wir sind, wenn wir neiden und hassen und die Daseinssekunde uns oder andern durch unsere Selbstsucht verdunkeln.“

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