Erebus - ©  Getty Images / Universal History Archive/Universal Images Group

"Erebus": Gefangene des Eises

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Michael Palin – Schauspieler, Autor und Dokumentarfilmer – bricht in seinem neuen Roman zu einer abenteuerlichen Reise im Kielwasser der HMS Erebus auf.

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Michael Palin – Schauspieler, Autor und Dokumentarfilmer – bricht in seinem neuen Roman zu einer abenteuerlichen Reise im Kielwasser der HMS Erebus auf.

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Er wurde aus dem Chaos geboren: Erebos. Er war der Urgott, die Personifikation der Finsternis. Wer wollte je an diesem Namen rühren! Nun, die Royal Navy des Viktorianischen Zeitalters zeigte wenig Berührungsängste und taufte ein Kriegsschiff nach dem Dunkelgott. In der Folge zum Forschungsschiff umgebaut, sollte die HMS Erebus – gemeinsam mit ihrem Schwesterschiff HMS Terror – in die Geschichte der großen Polarexpeditionen eingehen. Ihre letzte, von Sir John Franklin geleitete Fahrt hatte die Bezwingung der Nordwestpassage zum Ziel. Sie endete in einer maximalen Katastrophe: Die gesamte 129-köpfige Mannschaft und beide Schiffe blieben auf ewig Gefangene des Eises. Eismeerfahrten, diese aus geostrategischer Machtpolitik, Wissensdrang und Abenteuerlust gespeisten Husarenstücke, bergen naturgemäß ein hohes Risiko des Scheiterns in sich.
Die freiwillige Auslieferung an unberechenbare, lebensfeindliche Naturgewalten, die bewusste Inkaufnahme des Scheiterns sind in aufklärerischpositivistischer Lesart als Rechtfertigung des Fortschritts deutbar – oder, im Geiste der Antike und des Mittelalters, als Akt menschlicher Vermessenheit. Die Literaturgeschichte dekliniert diese Metaphorik am Schicksal fiktiver wie historischer Nord- und Südpolfahrer. Schon Dantes Odysseus der „Divina Commedia“ überwindet die Tabu grenze der bekannten Welt (die Säulen des Herkules) und segelt auf den Südpol zu; Poe schickt seinen Arthur Gordon Pym, Jules Verne seinen Kapitän Hatteras und André Gide seinen Urian ins ewige Eis; Georg Heym bereitet Shackletons Südpolfahrt auf, Christoph Ransmayr die arktische Payer-Weyprecht-Expedition; Sten Nadolny stilisiert Franklin zum tragischen Helden der Langsamkeit, Margaret Atwood widmet seiner Expedition einen Essay.

Spannende Rekonstruktion

Und nun Michael Palin, ehemals MontyPython-Mitglied, Dokumentarfilmer und Reiseschriftsteller: Mit seiner Erzählung „Erebus“ folgt er dem Kielwasser des legendären gleichnamigen Schiffes. „Ich bin kein Marinehistoriker, aber ich interessiere mich für Geschichte. Ich bin kein Seemann, aber ich fühle mich zum Meer hingezogen“, bekennt er im Vorwort. Die hervorragende Übertragung ins Deutsche hat Rudolf Mast besorgt, ein ehemaliger Segellehrer und Segelmacher, der sich der Theaterwissenschaft und dem Übersetzen verschrieb. Sir Michael Palin begann seine umfassenden Recherchen bei der Royal Geographical Society in Kensington, deren Präsident er von 2009 bis 2012 war. Er durchforstete unzählige Archive, befragte Franklins Ururenkelin wie Nachfahren der Erebus-Besatzung und folgte den weiten Routen des Schiffs. Anders als dessen minutiös dokumentierte Südpolfahrt, ist die todbringende Arktis-Expedition nur durch wenige Originalschriftstücke belegt. Das hohe spekulative Element ihrer Rekonstruktion verstärkt den Suspense-Faktor. Palin wusste daraus erzählerisches Kapital zu schlagen – unter stetem Abgleich der divergierenden Narrative: Die offiziellen Expeditionsberichte, Logbücher, Journale und Briefe der Mannschaft beziehungsweise die Erzählungen der Inuit, die Berichte der Medien und jene der Suchmissionen sprechen verschiedene Sprachen.

Mit silbernem Besteck im Gepäck

Palin erschließt die Expeditionen aus der Weitwinkel- wie aus der Zoomperspektive. Er verzichtet auf romaneske Ausschmückung, erzählt chronologisch, packend – und mit kritischer Distanz zu den geostrategischen wie kolonialpolitischen Motiven des Empire. Der Leser bekommt ein komplexes Bild von der Bauweise und Proviant-Logistik der Schiffe, vom Bordalltag, den Riten, Gefahren und Körperqualen der Seemänner. Oder von deren Gegengift zur Langeweile, wenn die Schiffe im Polareis überwinterten: Sie spielten Theater, organisierten kleine Feste. Man staunt über die Bordbibliotheken und die Extras der Offiziere: Sie waren „angehalten, silbernes Essbesteck im Gepäck zu haben“. In Kontrast zu derlei Extravaganzen holt der Autor die einfachen Seeleute auf die Bühne – die Kalfaterer, Heizer, Zimmerer oder Eislotsen.
Die 1840 gestartete Südpolexpedition (James Clark Ross befehligt die Erebus, Francis Crozier die Terror) dauert vier Jahre. „Das britische Interesse an diesen Regionen war vor allem dem Waltran geschuldet, der in der Heimat die Lampen leuchten ließ und die Hände säuberte“, erläutert Palin. „Es waren durchwegs intelligente und wissbegierige Männer, die, vom Geist der Aufklärung beseelt, die Welt bereisten, um das Wissen zu mehren […]. Doch die Überzeugung, das Richtige zu tun, ging einher mit dem Gefühl der Überlegenheit, das, falsch verstanden, die Schattenseiten des wachsenden britischen Selbstbewusstseins hervorkehrte.“ Die Abbruchkante eines gigantischen Eisblocks, die sogenannte „Barriere des Südens“, weist die Pioniere buchstäblich in die Schranken, sie erreichen den Pol nicht. Die nächste Mission der Schiffe sollte den Seeweg nach Fernost verkürzen. Es galt, die Nordwestpassage zu durchsegeln und die letzten weißen Flecken dieses Durchlasses vom Atlantik zum Pazifik zu kartieren.
Franklin blickte bereits auf eine glücklose Arktisfahrt zurück, die ihm ein zweifelhaftes Prädikat eintrug: „der Mann, der seine Stiefel aß“. Nun befehligte der knapp Sechzigjährige die Erebus. Warner blieben ungehört: zu alt der Kapitän, zu schwer die Fracht, saisonal zu spät der Start. Der erfolgte im Mai 1845, ein gutes Jahr später brach jeder Kontakt zur Heimat ab. Die ersehnte nationale Heldentat kehrte sich ins desaströse Gegenteil (nicht den Briten, sondern Roald Amundsen sollte sowohl die Erreichung des Südpols als auch die Bezwingung der Nordwestpassage glücken).

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