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Erfolg und Versagen liegen dicht beieinander

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Österreich hat es weit gebracht. Wir sind angesehenes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft, und zählen zu den reichsten Ländern der Welt. Die letzten Jahrzehnte sind aber nicht nur eine Geschichte des Erfolges, sondern auch des Versagens.

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Österreich hat es weit gebracht. Wir sind angesehenes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft, und zählen zu den reichsten Ländern der Welt. Die letzten Jahrzehnte sind aber nicht nur eine Geschichte des Erfolges, sondern auch des Versagens.

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Es ist die Zeit der feierlichen und besonnenen, der bedeutungsschwangeren und stilvollen Rückblicke. Ein halbes Jahrhundert fordert dazu auf. So werden Grenzen überschritten und Kränze niedergelegt. Ks werden Reden geschwungen und Hände geschüttelt. Gedächtnissitzungen und Festbesuche wechseln einander ab. Die einen Themen werden angesprochen und die anderen vermieden, wie es die „political cor-rectness” befiehlt.

In der Tat gibt es zu feiern: Verglichen mit den Turbulenzen der Zwischenkriegszeit und gemessen am Schlamassel des Anfangs ist die Zweite Republik ein Triumph. Wir blicken auf friedliche Jahrzehnte zurück und erfreuen uns eines hohen Lebensstandards. Osterreich gehört schließlich zu den reichsten Ländern der Welt. Ein Wirtschaftswunderland. Kleiner Staat, ganz groß.

Wir wollen an diesen Jahrzehnten nicht herummäkeln. Ks gibt genug Intellektuelle, die sich in deutschen Feuilletons gerne über die Verdrängungen und Repressionen dieses Landes austoben, und in deren Gesellschaft wollen wir uns nicht befinden. Aber die stolzgeschwellten Reden fordern doch dazu auf, noch einmal ernsthaft darüber nachzudenken, wie weit wir es wirklich gebracht haben. Schreiben wir eine Erfolgsgeschichte und bekennen wir uns dazu. Schreiben wir aber auch eine Geschichte des Versagens, und drücken wir uns nicht vor den Irrtümern, Fehlern und Zerstörungen, die auch dazugehören.

Man braucht nur mit offenen Augen durch das Land zu fahren: sich die Städte und Dörfer, die Landschaften und die Menschen anzusehen. Man braucht nur an die Schulen der Jungen, die Lebenssicherheit der Alten und die Versorgung der Kranken zu denken. Man braucht nur durch die Stätten der Kultur zu spazieren und in den Büchern zu blättern. Und man halte dagegen die detonierenden Granaten Sarajewos, das Desaster Somalias, den Streß Tokios, die Unsicherheit Brasiliens. Es ist eine Insel der Seligen, auf der wir uns befinden.

Die ökonomischen Daten, die wir als die härtesten Belege des Erfolges heranziehen können, sprechen eine klare Sprache. Niemand hätte sich in den Buinen der Nachkriegszeit träumen lassen, daß ein derart rasanter Start ins Wohlstandsparadies möglich wäre.

Schon in den sechziger Jahren war der Luxus so weit gediehen, daß man begann, die Schattenseiten einer Konsumgesellschaft zu beklagen, die damals doch erst eine schwache Ahnung von dem vermittelte, was noch kommen sollte. Ein gesichertes, unaufhaltsam wachsendes Einkommen; der erste Fernseher, dann über den Farbfernseher zum Videorecorder; Urlaub und Zweiturlaub, Auto und Zweitauto. Mit dem Wirtschaftswunder ist auch ein Wohlfahrtsstaat finanzierbar, der beinahe 100 Prozent der Bevölkerung risikoabsichernd erfaßt.

Selbst die Turbulenzen der siebziger Jahre, ausgelöst durch die Ölkrise, konnten den Aufstieg nicht nachhaltig stören. Bennetton und Bolex, Kreditkarte und Handy sind die Symbole der reichen, dynamischen, europäischen Gesellschaft, an die sich hohe Erwartungen der Bürger richten.

Das Wirtschaftswachstum gründete auf einer politischen Friedlichkeit, die zu Beginn keiner hatte vorhersehen können. Die großen politischen

Lager hatten sich - trotz wechselseitigen Mißtrauens - verschworen, sich nicht mehr durch den wechselseitigen Konflikt in totalitaristische Gefährdungen treiben zu lassen.

Die Zweite Bepublik ist ein System der Verhandlungen und der Kompromisse, getragen von einem starken Bedürfnis nach Harmonie. Die staatstragenden Parteien einigten sich in der Großen Koalition und auf der Ebene der Sozialpartner, oft hinter den Kulissen, oft auch weit weg von den Bürgern. Man fuhr den Gegner nicht mit Mehrheiten nieder, wo immer dies möglich war, sondern arrangierte sich im Proporz.

Niemand befürchtet gefährliche Unruhen

Als die Stabilität gefestigt war, konnten auch beweglichere Politik-Elemente in das politische Geschehen Eingang finden: Mit der abnehmenden Dichte der ideologischen Lager wurde mehr Flexibilität möglich.

Wechselnde Regierungskonstellationen wurden ohne gröbere Gefahren ausprobiert. Wechselwähler probierten das „andere Lager”. Bürgerinitiativen und neue soziale Bewegungen brachten neue Themen und Methoden I in das politische Geschehen. Da man die Zuverlässigkeit und Leistungs-fähigkeitider Republik erfahren hatte, wagte man ein wenig Buntheit: Die geschriebene und die ungeschriebene Verfassung hielten, und so konnte man es sich leisten, ein - wenig risikofreudiger zu sein. Niemand befürchtet heute ernsthaft bürgerkriegsähnliche Unruhen, und immer mehr Österreicher sind stolz auf dieses Land.

Kulturell knüpfte man zunächst an den Konservativismus der Zwischenkriegszeit an, und erst in den gesicherten Verhältnissen der sechziger Jahre probte man ein wenig mehr Liberalität: gegen die herrschende konservative Enge, gegen den fortwährenden Klerikalismus, gegen die

Beformverweigerung. Bechtsbestän-de (und damit Lebensverhältnisse) wurden offener und demokratischer gestaltet: vom Familienrecht zum Strafrecht, vom Bildungsbereich zum Medienbereich. Das schlug sich auch im Umgang miteinander nieder. Kinder emanzipierten sich in den Familien, Watschen wurden seltener. Die Frauen revoltierten noch intensiver gegen ihre hergebrachten Rollen und setzten eine „stille Revolution” in Gang. Politiker und Lehrer wurden von ihren unantastbaren Podesten geholt. Selbst im Umgang mit den meisten Behörden sind die Anschnauzereien von ehedem geschwunden.

Nach wie vor hat Österreich Höchstleistungen in den klassischen Kulturbereichen zu bieten. Auch der künstlerischen Avantgarde wurden zunächst Spielwiesen gewährt, dann begann man sie zu hätscheln, schließlich wurde ihnen umfassende Förderung zuteil. Ein offener Geist fegte Vorbehalte hinweg; wem die Moderne nicht gefiel, der galt binnen weniger Jahre als Ewiggestriger. Mehr Menschen als je zuvor nehmen heute am kulturellen Leben teil.

Österreich: ein angesehenes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft, ein zuverlässiger Partner des Westens, eine Brücke zwischen Ost und West, ein Standort internationaler Organisationen, ein Vermittler mit dem Bonus der Neutralität -man kann an all diesen Erfolgen nicht vorübersehen, und es wäre ungerecht, eine intellektuell verbrämte Übellaunigkeit zu kultivieren, die in historischer Ignoranz alle diese Leistungen hinwegdefiniert.

Aber es gibt auch eine andere Geschichte der letzten Jahrzehnte, eine Geschichte des Versagens, und auf sie werden wir in der nächsten Woche einen Blick werfen. Der Autor ist

Professor für Soziologie in Graz

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