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ERHELLTES SELBSTSEIN

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Im August dieses Jahres werden es genau drei Jahrzehnte, daß ich in einer Wiener Antiquariatsbuchhandlung mir den Band 1000 der Sammlung Göschen erwarb, der den Titel trägt: „Die geistige Situation der Zeit.” Sein Autor hieß Karl Jaspers und war damals schon nicht mehr Ordinarius für Philosophie in Heidelberg, weil ihn das Regime im Jahr 1937 von seinem Lehrstuhl entfernt hatten. Das wußte ich damals noch nicht, als ich diese bereits 1931 erschienene Phänomenologie unserer von technischen und bürokratischen Apparaten beherrschten Zeit zu lesen begann. Ich wußte als junger Student der Germanistik damals auch noch nicht sehr viel von Existenzphilosophie, aber ich las mit brennenden Augen die Diagnose einer Zeit und sah rings um mich bestätigt, wie der Mensch immer seins- und selbstvergessener in die Barbarei zurückfiel. Und ich las die großartigen Mahnungen dieses schmalen Bändchens, das — wie ich es erst heute weiß — schon damals den ganzen Kern des Jasperschen Denkens enthielt. Ich wurde damals durch Karl Jaspers an mich selbst als Mensch erinnert, an mein Selbstsein, an das Selbstsein des Menschen, der immer „mehr ist, als er von sich weiß”.

Dieses Mehr liegt für die meisten Menschen zeitlebens im dunkeln. Es zu erhellen, die Existenz zum Leuchten zu bringen im Angesichte des Ewigen, der „Transzendenz”, ist Sinn und Aufgabe aller Werke, die Karl Jaspers geschrieben hat.

1946 _ im Angesicht der Trümmerwelt, die der große Krieg in Europa hinterlassen hatte — begegnete ich erneut einem schmalen Bändchen des Philosophen. Es hieß „Die Schuldfrage” und war im Artemis-Verlag in Zürich als „Beitrag zur deutschen Frage” erschienen. Ich wünsche mir dieses vielfach mißverstandene und angefochtene Bändchen heute noch in die Hand jedes jungen Menschen, damit er lerne, was „metaphysische Schuld” sei inmitten einer Welt, der anscheinend auch die Kugel des zweiten Weltkrieges bei einem Ohr hinein und zum anderen Ohr hinausgegangen ist, wie es Karl Kraus schon vom ersten Weltkrieg gesagt hat. Damals las ich die mich heute noch tief ergreifenden Sätze:

„Es gibt eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen, welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen. Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich ist. Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich.”

Es mag Menschen -geben, die diesen von Kant herkommenden ethischen Rigorismus als zu streng empfinden mögen. Wie wollen sie dann den noch weit drohenderen Gefahren der Atombombe in unserer Zeit begegnen? Wollen sie die letzten Fragen, vor die uns diese tödlichste aller Bedrohungen gerade jetzt wieder stellt, leichtsinnig verdrängen? Hier hilft am Ende keine Flucht in die Betriebsamkeit und in den Massenkonsum seichter Vergnügungen. Der „totale Untergang” durch Auslösung eines Atombombenkrieges ist möglich geworden. Naturwissenschaftler von Rang haben es wiederholt bezeugt. Die Tiefenpsychologie seit Freud und Rank weist auf die merkwürdige Verfallenheit des Menschen an den „Todestrieb” hin, zuletzt Wilfried Daim in seinem 1959 erschienenen Buch „Totaler Untergang”, das sich wie eine Ergänzung am Rande, eine tiefenpsychologische Marginalie liest zu der gewaltigen und aufrüttelnden Aussage des Philosophen Karl Jaspers aus dem Jahre 1958: „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen.” Wir dürfen uns weder in Angsthysterien und Psychosen, noch in einen billigen Optimismus des „Es wird schon nicht so schlimm werden!” flüchten. Unser aller politisches und moralisches Bewußtsein muß hellwach werden, wenn wir dem Phänomen des möglich gewordenen „totalen Untergangs” begegnen und es gar bewältigen wollen. Unser Denken wird durch diese brutale Tatsache, die die Atombombe für uns darstellt, „bis in den Grund des Menschseins” getrieben, dorthin, wo nach Jaspers „zur Frage wird, was der Mensch ist und sein kann”. Jener Mensch, der „mehr ist, als er von sich weiß”.

Aber wir sind noch einer zweiten, nicht minder starken Bedrohung ausgesetzt, die Jaspers mit der Atombombe in einen notwendigen Bezug setzt: „Der Atombombe, als dem Problem des Daseins der Menschheit, ist nur ein einziges anderes Problem gleichwertig: die Gefahr der totalitären Herrschaft mit ihrer alle Freiheit und Menschenwürde vertilgenden terroristischen Struktur. Dort ist das Dasein, hier das l eb ens - werte Dasein verloren.

Dieser in Deutschland und auch anderswo neu auflebenden Gefahr gilt die Sorge des 85jährigen Denkers in seinem 1963 erschienenen Buch „Lebensfragen der deutschen Politik”, das ebenso mißverstanden worden ist, wie seinerzeit die „Schuldfrage”. Dazwischen liegt das ungeheure philosophische Werk, angefangen von der berühmten „Psychologie der Weltanschauungen” vom Jahre 1919 bis hin zu dem 1962 erschienenen Werk „Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung”. In ihm hat ein Denker nicht nur die Philosophie von ihrem ,,-logien-Oharakter”‘ befreit und aus dem Ghetto einer theoretischen Fachdisziplin herausgeführt, als einziger wahrhaft legitimer Nachfahre Kants, sondern er hat sein Denken auch praktisch und fruchtbar für die Probleme eines jeden von uns gemacht, indem er uns half, unseres Menschseins wieder innezuwerden durch unermüdliche Erhellung unseres dunklen, verborgenen Selbst, unserer Existenz. Dafür möchten wir ihm, der vor kurzem seinen 85. Geburtstag feierte, in tiefer Ehrfurcht danken.

weil in der Dichtung die Unendlichkeit verwirklichbar ist. 1917, da der Krieg sich zeitlich nicht mehr abgrenzbar manifestiert zu haben schien, etablierten sich die Dadaisten mit ihrer Literatur des Unsinns; und 1901, dem Jahrhundert zum Auftakt, hat der wortgewaltige Streiter Gottes, Gilbert Keith Chesterton, seine berühmt gewordene „Verteidigung des Unsinns” geschrieben, in der er sich dagegen verwahrt, im Unsinn nicht mehr als eine ästhetische Laune zu sehen und ihm sogar eine religiöse Komponente zuweist: „Unsinn und Glaube (so ungereimt dies auch klingen mag) sind die zwei stärksten symbolischen Beweise für die Tatsache, daß es ebenso unmöglich ist, das Wesen der Dinge mittels eines logischen Schlusses zu enträtseln wie einen Wal mittels einer Angel zu fangen. Die gute Seele, welche lediglich die logische Seite der Dinge zu erforschen suchte, und somit zu dem Ergebnis kam, daß .Glaube Unsinn sei”, weiß nicht, wie richtig sie es trifft; vielleicht kommt sie später darauf, daß Unsinn Glaube ist.” Für Chesterton erhält der Unsinn seinen Anwert durch seine Bindung an die Kindlichkeit. „Der älteste, der gesündeste und religiöseste Wert der Natur liegt in dem Wert, der von ihrer ungeheuren Kindlichkeit ausgeht; sie ist so wacklig, so grotesk, so feierlich, so glücklich wie ein Kind. Es gibt eine Stimmung, wo wir all ihre.

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