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Erinnerung an einen Vergessenen

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Es gab einmal einen russischen Dichter namens Fjodor Ssollogub. Er ist vor dreißig Jahren gestorben, und gar so viel weiß ich von ihm nicht zu sagen... aber gerade das reizt einen: als ob das Vergangene weniger wirklich wäre als das Heute! Er war Schullehrer irgendwo in der Provinz, ich glaube in Perm, von welcher Gegend man in Petersburg spöttisch meinte: „W Permi tout est permi“ (In Perm ist alles erlaubt). Dann fuhr er mit einem Roman unterm Arm in die Hauptstadt und wurde berühmt. Damals, vor dem ersten Weltkrieg, hatte Rußland seine letzte europäische Kulturepoche. Die Literatur, bis dahin von Tolstoi und Tschechow auf der Ebene der Prosa gehalten, wurde vom Rausch der Verse ergriffen, die Tintenfässer brausten auf, und auch Ssollogub schrieb ein ganzes Buch recht schöner Trioletts. Alles, vom Schulbuben bis zum Bankdirektor, begann von Rhythmen überzufließen, denn die Wasser der Sprache waren aufgerührt worden... und manch ein Darniederliegender sprang auf seine Versfüße. Zwei kleine Züge dieses schönen Wahnsinns: Jede Woche versammelten sich die berühmtesten Dichter in einem Saal als Jury — wer nur wollte, konnte hingehen und vor ihnen seine Gedichte rezitieren. Dann kam eine ermunternde oder* vernichtende Kritik der Kenner: warum dieser Ausdruck, diese Metapher, dieser Rhythmus, dieses Thema gut oder schlecht, begeisternd oder banal sei. Und das alles geschah unter dem atemlosen Lausdien des Publikums. Der andere kleine Zug: Es gab damals einen großen Shakespeare-Schauspieler Mämont Däljsky. Eine Seele von einem Menschen; mit allen auf Du. Und da kam es oft vor, daß er nachts per Telephon angerufen wurde: „M&mont, wir sitzen hier beisammen, fahr sofort zu uns — wir wollen Shakespeare!“ Und das Beste: Er kam dann auch wirklich, und riß alle mit seinem Lear oder Macbeth oder Othello hin. — Aber das endete traurig, wie so vieles in Rußland. Es kam der Krieg, es kam die Revolution, und die Menschen hungerten nicht mehr nach Shakespeare, sondern nach einem Stück Brot.

Und auch Ssollogub endete traurig; das war bereits in der Nachkriegszeit. In seiner Jugend hatte er einmal jene entsetzliche Massenkatastrophe auf dem Chodynka-Feld beschrieben, die sich 1896, bei der Krönungsfeier Nikolaus IL, zutrug. Damals drängte die hunderttausendköpfige Menge so ungestüm zu den kaiserlichen Geschenktischen, daß neuntausend Menschen dabei zertreten wurden. Nach dem Zeremoniell sollte das kaiserliche Paar die Geschenkfeier besuchen. Und die Veranstalter hatten so sehr den Kopf verloren, daß sie auch jetzt noch, trotz der Katastrophe, den Kaiser und die Kaiserin hinführten — auf die Festwiese, die eis grausiges Leichenfeld geworden war! Tränenüberströmt mußten die beiden langsam an den neuntausend Leichen vorüberschreiten ... Doch Ssollogub selber sollte gegen Ende seines Lebens etwas Aehnliches durchmachen. Er und seine Frau liebten einander tief, wie es ja bei kinderlosen Ehepaaren geschieht: jeder wird dem anderen Kind. Eines Tages im Frühling war die Frau zum Einkaufen gegangen und nicht wieder heimgekehrt. Alles Nachforschen bei Bekannten, bei der Polizei blieb vergeblich. Ssollogubs Wohnung ging auf den Kanal Moika. Es war Eisgang. Und wie er nun trübe aus dem Fenster starrt, sieht er auf einer schmutzigen Eisscholle die Leiche seiner Frau langsam an sich vorübertreiben. — Das Letzte von ihm erzählte ein Bekannter einige Jahre darauf. Er hatte Ssollogub besucht. Dieser war vergreist, kaum wiedezuerkennen. Er saß in mehreren Mänteln, fror und hungerte. Und sagte mit leiser Stimme: „Ich habe alles verloren. Die letzte kleine Freude, die mir noch verblieb, war das Rauchen. Und jetzt habe ich auch nichts mehr zu rauchen.“ —

So weiß ich von Ssollogub recht wenig —, aber er muß doch ein Dichter gewesen sein, sonst hätten mich nicht zwei winzige Splitter seines Werkes, die ich vor vierzig Jahren nur einmal gelesen habe, fortan durch das ganze Leben begleiten können. Der eine sind die ersten vier Zeilen eines kleinen Gedichtes, das mir während des Wartens beim Friseur vor die Augen kam. Sie blieben mir damals sogleich im Ohr, und lauteten--aber was hilft es, wenn ich sie russisch hinsetze! Im Deutschen ist das ja bloß eine dürftige Inhaltsangabe:

Du möchtest, kleines Mädchen - Mond, heruntergehend den steilen Himmel, kosten vom erhabenen Wein und von unserem irdischen Brote.

Das müssen Sie mir schon glauben, daß das auf russisch wirklich ein silbernes Mädchen ist, wie es neugierig, rührend und gerührt, von unserer Erde angezogen wird ... Dabei weiß ich nicht einmal, wie das Gedicht weitergeht. Es hatte noch zwei Strophen, aber der Friseur rief „Der nächste Herr, bitte“ und so hängte ich das Journal an den Haken.

Das andere war eine winzige märchenhafte Erzählung. Keine Bibliothek hat das Buch, und so kann ich den Inhalt nur aus dem Gedächtnis wiedergeben. — Eine Karawane zog in der Nacht durch die Wüste. Sie schritten im Dunkeln ohne Licht, weil sie mit dem Blick nach oben von den Sternen ihre Wegrichtung ablasen — zu der nächsten Wasserstelle. Es ging geradeaus, über Stock und Stein, Hügel und Schlucht, durch dick und dünn: liest man seinen Weg vom Himmel ab, so ist der irdische rauh und zufällig. Man stach sich am Gestrüpp; man stieß an und stolperte; manch ein Lasttier fiel und mußte aufgerichtet werden.

Da r:eschah es, daß einer, den das Stolpern verdroß, wissen wollte, wo er eigentlich ging. Und er zündete eine Laterne an. Da entdeckte er durch ihren Lichtschein am Sande Fußspuren ... Laut rief er die anderen herzu und sprach: „Das ist ja unsinnig, weiter im Dunkeln zu gehen, ohne einen Schritt voraus zu erkennen! Seht doch, was meine Laterne zeigt — deutliche Spuren im Sand: das ist der Weg. Jetzt werden wir nicht mehr stolpern; jetzt gehen wir sicher!“ Da wurden alle Menschen neugierig, und auch sie zündeten sich Laternen an. Und sie riefen vor Erstaunen, denn sie entdeckten noch viel mehr Spuren; jeder entdeckte Spuren. „Hierher“, rief der eine, „dies sind die richtigen Fußstapfen — dieses ist der Weg!“ — „Nein, hierher“, riefen andere, „hier sind doch viel mehr und viel deutlichere! Nur dies kann die wahre Richtung sein!“ Und so rief jeder, mit seiner Laterne tief nach unten gebückt, und forderte die Gefährten jubelnd auf, ihm zu folgen. Aber weil sie jetzt die Laternen so nah vor den Augen hielten, konnten sie die Sterne oben nicht mehre sehen, und der Himmel wurde ihnen finster. Da blieb die Karawane unschlüssig stehen und begann sich zu zerstreuen: die einen Laternen zogen hierhin, die anderen dahin, die dritten dorthin — denn überall folgten sie Spuren, Spuren im Sand. Und es gab keine Karawane mehr, sondern nur noch zuckende Lichtchen, die hierhin und dorthin huschten, und sich immer weiter voneinander entfernten. —

So ungefähr ging die Geschichte. Fjodor Ssollogub ist längst vergessen — als ob es ihn gar nicht gegeben hätte. Aber diese Geschichte ist, mir jedenfalls, lebendig geblieben.

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