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Erinnerung an Emil Reich

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Im Sommersemester 1936 fanden drei miteinander befreundete, jungsemestrige Hörer der Wiener Universität in ihrem Vorlesungsverzeichnis unter dem Stichwort „Philosophie“ irgendwo ganz unten die Ankündigung: Honorarprofessor Dr. Emil Reich: Grillparzer-Dramaturgie, Donnerstag 17 bis 18 Uhr.“ Es gab zwar wesentlich mehr Vorlesungen aus den gewählten Gebieten der Germanistik und der Altphilologie, als man hätte belegen und besuchen können, doch dies eine verlockte sie eben: Grillparzer!

Bei Semesterbeginn waren sie also fünf oder sechs Hörer in einem ganz kleinen Hörsaal. Dies war herzlich wenig, wenn man an die überfüllten Hauptvorlesungen der verschiedensten Fächer dachte. Und auf dem Katheder vor ihnen saß ein sehr alter, kleiner Mann, der schnell, wenn auch gewählt sprach, schlecht hörte und schlecht sah. Der Inhalt seiner Worte war allerdings bedeutend und man konnte vom Thema her auf einiges gefaßt sein.

Dennoch wären die drei Kollegen wohl abgesprungen, hätten sie gewußt, daß sie schon vom zweiten Abend an zu dritt bleiben würden. Tres faciunt collegium. So etwas verpflichtet natürlich, wenn man auch nur ein wenig akademischen Anstand hat. So wurde nach den Stunden der Einführung allwöchentlich ein anderes Drama Grillparzers nachdurchdacht und ästhetisch durchleuchtet.

Der alte würdige Mann mit dem Hörapparat auf dem einen Ohr war 1904 als Nachfolger des Burgtheaterdirektors Alfred Freiherr von Berger als Extraordinarius für Ästhetik bestellt worden. Er sprach nicht nur von Grillparzer und seinen Dramen. Er schlug auch streitbar und ironisch gegen verschiedene literarische und literaturwissenschaftliche Erscheinungen der Gegenwart aus. Auch wetterte er manchmal ein wenig gegen die derzeitigen autoritären Regime in Österreich und Deutschland. Obwohl seine jungen Hörer in dieser Hinsicht zwar unterschiedlich, doch ganz anders dachten als er: drei Hörer allein konnten doch nicht trampeln oder zischen, das hätte sich weder gehört noch wäre es vom Vortragenden gehört worden.

Alles in allem war es doch ein nettes Privatissimum (noch dazu gegen Kollegiengeldbefreiung!). Da der Hörsaal anschließend frei blieb, wurde allmählich eine Doppelstunde daraus. Man lernte seinen Grillparzer feiner sehen und erfühlte die geistigen Spuren des alten sozialistischen Liberalismus’ in Österreich, der politisch seit zwei Jahren mundtot gemacht war. Zudem war man genötigt, sich schon vorbereitend mit den einzelnen Dichtungen Grillparzers zu befassen. Contemplatio austriaca!

Wer war nun Emil Reich, der 72jährige Gelehrte mit der schütteren weißen Künstlermähne? Was aus den Vorlesungen nicht hervorging, erfuhr man aus Nachschlagewerken: Der Sohn einer alten mährischen Glasindustriellenfamilie. Sein Geburtsort war Korytschan in Mähren, unweit jenes Ortes gelegen, an dem Masaryk zur Welt gekommen war. Der Name traf gewiß zu, so einfach sich der Greis zu tragen und zu geben pflegte. Seine Reichtümer gehörten aber auch dem Geistigen an. Seiner Geburt nach mochte er jüdischer Abstammung sein, seine Sprache verriet dies höchst selten. Ob getauft oder ungetauft: er bekannte sich zur Kulturwelt des • Christentums und.zur Denkwelt des Freisinns. Er war Sekre- Ictr äir’Grillparzergeseilschaft ünd hat’tä außer Übet’"G¥Ül-’ parzer noch andere Werke verfaßt, so ein berühmtes Buck: über Henrik Ibsens Dramen. Übrigens war er Ibsen um die Jahrhundertwende in Oslo persönlich begegnet. Ergreifend war die Widmung des Werkes, an die geliebte Mutter, zu lesen. Neben seinen ästhetischen Vorlesungen pflegte Reich die Ethik und die Soziologie besonders zu berücksichtigen. Doch sein Hauptverdienst lag in der Anregung und Förderung des Volksbildungswesens, der Volkshochschulen und der Volkshochschulkurse, die inzwischen in andere Hände übergegangen waren. Nach seinem Bruder war die Jülius-Reich- Stiftung benannt, die jedoch praktisch sein Werk und sein Legat war.

Ein großer, alter Mann also, und so blieb er uns trotz seiner Unmodernheit und seiner uns nicht sehr lieben Pausenfeindlichkeit respektvoll in Erinnerung. Hier hatten wir nicht nur einen bedeutenden Geist von gestern vor uns, hier gab es noch einen wirklichen Professor, einen Bekenner, einen, der die Fahne seines Denkens hochhalten wollte bis ans Grab.

Das Semester ging zu Ende und der alte Mann dankte den drei Hörern für ihre Treue des Durchhaltens. Ein abschließendes Kolloquium hätte sich wohl sehr schwierig gestaltet.

Wir sahen den alten Herrn noch manchmal in späteren Semestern. Er war krank und las nicht immer, zuletzt geschah dies im Jänner 1938. Im Trubel der Ereignisse vergaß man seiner, doch einer von den dreien fand im „Wer ist’s“ seinen 75. Geburtstag heraus. Das war schon im Oktober 1939. Er beglückwünschte, auch im Namen seiner Kollegen, den Jubilar brieflich in seiner Döblinger Wohnung. Man fürchtete insgeheim freilich, daß er in der letzten Zeit gewisse Schwierigkeiten gehabt hätte, doch war man in jugendlichem Idealismus bereit, das Günstigste zu hoffen. So genau kannte man die persönlichen Verhältnisse des Gelehrten wirklich nicht.

Die Dankesantwort war erschütternd genug. Der einst so reiche akademische Lehrer und Jugendfreund war in Not. Man wollte ihm nur 200 Mark monatlich ohne besondere Genehmigung aus seinen Geldern zur Verfügung stellen, „weil ich vor dem Gesetz als das gelte, was ich nicht bin Ich wollte, meine letzte Kollegstunde wäre auch meine letzte Lebensstunde gewesen; gerade weil ich mich stets als Deutscher empfand Emil Reich (oder mit dem verliehenen Vornamen Emil Israel Reich)“

1940 ist Emil Reich zu Wien an Altersschwäche und gewiß auch an Kränkung gestorben. Er wurde dem Vernehmen nach auf dem Döblinger Friedhof in aller Stille beerdigt.

Seine drei Hörer von anno 1936 erinnern sich immer wieder an ihn. Er war ein Stück Altösterreich auf ihrer geliebten Alma mater Vindobonensis gewesen. Der eine ist heute Direktor einer angesehenen Mittelschule der Wiener Innenstadt, das Mädchen aus dem Kleeblatt ist gleichfalls Professorin, und der dritte wirkt seit dem Kriegsende in der Privatwirt- schaft: für ihn ist Grillparzer Privatsache geworden und geblieben. Im Grillparzerbild der drei wirkt bewußt und unterbewußt manche Erkenntnis weiter, die Emil Reich, dessen 100. Geburtstag herannaht, in ihnen gefördert hat. Wo Emil Reichs Werk nicht mehr gekannt wird, sollte wenigstens sein Idealismus weiterleben. Daß ein Wiener Gemeindebau nach ihm benannt ist, ist des Dankes nicht genug, denn Größe verpflichtet auch zu persönlichem Gedenken.

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