6556233-1948_23_07.jpg
Digital In Arbeit

Erinnerung an Theodor Haecker

Werbung
Werbung
Werbung

In der Seestraße in München — genannt nach dem nahegelegenen Kleinhesseloher See im Englischen Garten — stand (und vielleicht steht) eine kleine Stadtvilla, in der sich wenige Jahre vor dem ersten großen Kriege mehrere zumeist recht junge Männer von Herbst bis Frühjahr zu all- montäglichen „philosophischen Abenden” getroffen haben.

Dieses hübsche Haus mit einem Stockwerk und Mansarde, in einem mäßig großen Garten gelegen, war Eigentum und Wohnsitz Helene Böhlaus, der besonders um die Jahrhundertwende sehr geschätzten Romanschriftstellerin. Mit den Romanen „Das Recht der Mutter”, „Der Rangierbahnhof” und ähnlichen hat sie erfolgreich die damals heftig umkämpfte Frauenfrage im Sinne der neuen Forderungen zum Inhalt ihrer gehaltvollen Darstellungen gemacht, in anderen Romanen („Die Kristallkugel”, „Das Haus zur Flamm’”) eigenartige Menschen geschildert und damit manchesmal an Raabe erinnert. Sie war aus Weimar, war die Tochter des Hof Verlegers Hermann Böhlau, der aus alteingesessener Weimarer Familie stammte Und die Ratsmädeln in Helene Böhlaus noch heute lebendigen and frischen „Ratsmädelgeschichten” waren Vorfahren, die mit dem alten Herrn Geheimrat von Goethe spazierengegangen sind, der ab und zu durch diese reizvollen Geschichten schreitet, das weiße Haar „wie einen wohlfrisierten Nebel” um das Haupt.

Nicht aber Helene Böhlau hatte mit diesen philosophischen Abenden zu tun, sondern ihr Gatte, Omar al Raschid-Bei. Er war Deutschrusse mit dem ursprünglichen Namen Arndt und war aus Sankt Petersburg an das Geographische Institut in Weimar gekommen. Dort lernte er die um 20 Jahre jüngere Helene Böhlau kennen. Der kluge, gebildete und geistreiche Mann hat auf die in ihren literarischen Anfängen stehende junge Helene auch auf geistigem Gebiete starken Einfluß ausgeübt und ist ja zeitlebens der Berater und Lenker ihres großen Talents geblieben.

Als ich in den erwähnten philosophischen Kreis trat, war al Raschid-Bei etwa 70 und Helene Böhlau 49 Jahre alt. Seit wann al Raschid-Bei sich mit philosophischen Studien und Arbeiten beschäftigt bat, weiß ich nicht. Jedenfalls hat sein philosophischer Kreis schon um die Jahrhundertwende bestanden, denn im Jahre 1904 oder 1905 hat Ernst von Wolzogen mit der Komödie „Die hohe Schule” al Raschid-Bei und seinen Kreis verspottet. Die Premiere im Münchener Schauspielhaus soll für die Kenner ein erlesener Spaß, für das Profanam vulgus ein verwirrendes Ereignis gewesen sein, denn Wolzogen hatte für den Helden seines Stückes als Kostüm die Kleidung seines Originals vorgeschrieben — al Raschid-Bei trug stets einen dunkelblauen Anzug, dessen Hosen in weichen russischen Juchtenstiefeln staken, den Fez und einen türkischen grauen Umhang, der vom Fez herab ihn einhüllte — und die gleiche Gestalt saß in der rechten Proszeniumsloge, umgeben von heiter gestimmten jungen Leuten. Das gab dem zum größten Teil uneingeweihten Premierenpublikum zu gaffen, insbesondere als in der Pause jene Gestalt, dem Protagonisten auf der Szene durchaus gleich, im Foyer spazierenging, umringt von einigen ergebenen Adepten. Al Raschid-Bei hatte so viel Witz und Humor gehabt, die Persiflage auf diese Art zu parieren.

Als ich eines Montags in jenes Haus eintrat und im Flur Omar al Raschid-Bei gegenüberstand, har mich seine Kleidung nicht erstaunt, ich Wußte schon davon; aber dieses Antlitz, schmal, mit schmaler gerader Nase, grauem Bart und gepflegtem langem grauem Vollbart, mit seinem milden Ausdruck und diesen lächelnden und tiefschauenden grauen Augen hat mich jungen Menschen sofort tief beeindruckt und gefangengenommen. Ich stand vor einem weisen Überwinder. Denn überwunden hatte er viel, und viel stand ihm noch bevor, was zu schildern hier nicht der Ort ist.

Die zehn bis zwölf Männer, welche den Kreis um den alten Weisen bildeten, waren alle jung, auch Studenten in den ersten Semestern darunter. Zu den älteren zählte Theodor Haecker, den ich dort kennengelernt habe. Er war damals und auch länger noch in der Redaktion der „Meggendorf er Blätter” tätig, sein Eüro hatte er in der Residenzstraße nahe der Hauptpost. Ob seine Nase gebrochen war, wie in dem schönen Aufsatz in Nummer 16 der „Furche” erwähnt ist, weiß ich nicht; er hatte aber stets mit ihr zu tun, tupfte sie immer mit seinem Taschentuch ab und bastelte daran herum, so daß ich ihm, weil es mir auf jeden Fall unrichtig schien, einmal einen Klaps auf die Hand gegeben habe.

Die große Entwicklung, welche Theodor Haecker später genommen hat, war damals mit nichts noch angedeutet. Er war in diesem Kreise eher still, wie wir alle dort in der Hauptsache als Aufnehmende zusammengekommen sind. Al Raschid-Bei, der philosophisch vor allem von den Upanishads und Schopenhauer herkam, las meist aus seinem Manuskript vor, einem Werk, dessen Darstellung zwischen mystischer Intuition und rationaler Begründung schwankt, den Ton der Upanishads meisterlich trifft und doch originalen Wert besitzt, weil es kein matter Widerschein fremder Ideen ist. Es ist später, schon nach seinem Tode, durch meine Vermittlung mit dem Titel „Das hohe Ziel der Erkenntnis” bei R. Piper & Co. in München erschienen. Das Erscheinen dieser Arbeit vor seinem irdischen Ende hätte al Raschid-Bei nicht gewünscht, er brauchte sein Manuskript zur Rechtfertigung seiner täglichen Arbeit, die mit dem Erscheinen des Buches so gut wie abgeschlossen hätte sein können.

Wenn man an Theodor Haeckers erstes Buch „Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit” denkt, möchte man glauben, daß er bei al Raschid-Bei grundlegende Anregungen empfangen habe. Denn in dessen Werk, in dem sich Motive der abendländischen Philosophie mit orientalischer Weltweisheit verknüpfen, war der Weg des Individualismus preisgegeben und aus dem Grundsätze, daß es einer äußersten Verinnerlichung der sinnlichen Wirklichkeit bedürfe, um zum Universum vorzudringen, das damals moderne Ideal der Persönlichkeit negiert.

An diese Lesungen bei al Raschid-Bei schlossen sich zumeist Diskussionen an, nicht immer von gleichem Umfang und Gehalt. Wenn kein rechter Fluß zustande kam, griff al Raschid-Bei gerne auf das okkulte Gebiet über, aus dem er mancherlei Erfahrungen berichten konnte, was immer interessant, doch für die meisten von uns nicht überzeugend gewesen ist. Oder unser alter Weiser kam ins Erzählen, wofür er aus seinem wechselvollen Leben reichlich Stoff zur Verfügung hatte. Wenn er so erzählend in seinem Lehnstuhl saß, die Beine mit den russischen Schaftstiefeln übergeschlagen, vom grauen Umhang eingehüllt, den Fez über dem ausdrucksvollen, klugen und lieben Antlitz, aus dem die sprechenden und faszinierenden hellen Augen uns anblickten, dann glich er einem orientalischen Märchenerzähler, und da er das Einfachste fesselnd und spannend erzählen konnte, hingen wir an seinem Munde. Er war uns allen menschlich lieb und wertvoll.

Įjj diesem Kreis ist damals zweimal Max Scheler erschienen, den ich vorher in Jena, wo er Privatdozent gewesen war, im Hause Eugen Diederichs kennengelernt hatte, fast zugleich mit Alphons Paquet. Scheler hat an diesen Abenden nach meiner Erinnerung aus Zustimmung und Ablehnung gegenüber den Gedanken al Raschid-Beis regelrechte Vorlesungen entwickelt, dabei stehend wie im Hörsaal. Theodor Haecker hat in aller Zeit nie gefehlt. Ich habe ihn nicht oft und nicht viel sprechen gehört, am liebsten saß er, wie auch ich, wenn nach der Diskussion der Tee und Zigaretten gereicht worden waren, neben unserem alten Weisen, der — wie ich noch weiß — Theodor Haecker -besonders schätzte und mich sehr lieb hatte. Mit Theodor Haecker bin ich ein paarmal nachts von dem Haus in der Seestraße nach Hause gegangen, wir wohnten damals beide in Schwabing.

Im Sommer verlief sich der Kreis, nur einzelne besuchten al Raschid-Bei in seiner Mansarde, wo er ein großes Arbeitszimmer und ein kleineres Schlafzimmer hatte, wenn er nicht mit Helene Böhlau im Landhaus in Widdersberg nahe dem Ammersee sich aufhielt. In jenem stillen Arbeitsraum habe ich einmal auch Theodor Häcker getroffen.

Nach einiger Zeit der Abwesenheit in Leipzig kam ich wieder in den Kreis, der öfter, besonders was die studierenden jungen Männer betraf, wechselte, und traf wieder mit Theodor Haecker zusammen. Und dann zum letzten Male in dem vertrauten Haus an der Seestraße, da uns die Nachricht von schwerer Erkrankung unseres Weisen zusammengerufen hatte. Ich sehe Theodor Haecker noch in der Mitte des kleinen Schlafzimmers stehen, von den anderen umgeben, seine Nase abtupfend, als ich eintrat und er mir mit besorgtem Blick und leisem Deuten nach dem Bette begrüßend entgegenkam.

Omar al Raschid-Bei hatte in persönlichen Familienangelegenheiten einen schweren Schicksalsschlag erhalten. Theodor Haecker schien darum zu wissen, wie ich alles von al Raschid-Bei erfahren habe, als ich an sein Bett getreten war. Er hat lange meine Hand gehalten, dann habe ich mich zu ihm auf den Bettrand setzen müssen, und während unter den anderen Gespräche aufkamen, erzählte mir der alte Mann, der etwa fünfzig Jahre älter war als ich, was ihm Schreckliches begegnet war.

An diesem Abend sind wir alle zum letztenmal bei al Raschid-Bei gewesen. Sein Zustand — niemand kannte die Krankheit, die ihn befallen hatte, Theodor Haecker und ich sagten uns mit den Augen, was wir dachten: Mut und Kraft zu leben war hier zerbrochen — hat sich rapid verschlechtert, niemand durfte zu ihm, auch Theodor Haecker und ich nicht (obwohl er nach uns verlangte, als er unsere Anwesenheit erfuhr), und am dritten oder vierten Tage nach jenem letzten Abend war unser alter Weiser dahingegangen.

Wieweit und wieviel Theodor Haecker sich damals mit Studien beschäftigt hat, welche später in seine eigentliche Leistung mündeten, ist mir nicht bekannt, auch nicht mehr aus unsere:? Gesprächen in Erinnerung. Es ist mir aber nicht zweifelhaft, daß er damals sein Gebiet entdeckt und in der Zeit seines Aus- und Eingehens bei Omar al Raschid-Bei, wenn er auch nicht allem zustimmen konnte, starke und vielleicht entscheidende Anregungen empfangen hatte. Von allen anderen Teilnehmern habe ich weder Namen noch eine visuelle Erinnerung behalten. Theodor Haecker aber ist mir noch heute in seiner damaligen Verfassung und Form gegenwärtig. Wir haben uns nach al Raschid-Beis Tode lange nicht gesehen, und dann auch nur noch zweimal.

Sein erstes Buch vor 1913 war mir entgangen. Die während des ersten Weltkrieges, als ich an der Front stand, erschienenen Bücher hatte ich noch nicht kennengelemt, als mir Mitte der zwanziger Jahre als Neuerscheinung seine Ausgabe von Thompson (Shelley, Ein Korymbos für den Herbst, Der Jagdhund des Himmels) mit Theodor Häckers Aufsatz „Über Francis Thompson und Sprachkunst” in die Hand kam. Für mich eine große Überraschungbefriedigendster Art. Denn hier war ein tiefgründender Geist und eine SpracHbeherr- sdhung zu sehen, die höchst eigenartig und fast unerhört war. Ich habe mich damals gefragt, was man denn eigentlich so besonderes an der Sprache von Karl Kraus fände. Dieses Buch über Thompson war der Anlaß, mich mit Theodor Haeckers Schriften zu beschäftigen.

Zu Ende der zwanziger Jahre — ich habe damals in München eine kleine kulturelle Zeitschrift herausgegeben — hat Theodor Haecker einmal telephonisch versucht, mit mir in Verbindung und zu einer Verabredung zu’ kommen, was aus irgendeinem nrunde, auch was meine Gegenbemühung betrifft, nicht gelungen ist. Etwa zwei Jahre später habe ich, in di Heimat zurückkehrend, München verlassen und Theodor Haecker nicht mehr gesehen.

Wenn hier scheinbar mehr von Omar al Raschid-Bei als von Theodor Haecker die Rede war, so möge das daraus verstanden werden, daß al Raschid-Bei und das Seine der Rahmen war für die Begegnung mit Theodor Haecker und für diesen ein kleines Stück seines Lebens gewesen ist. Er selbst, Theodor Haecker, würde gewißlich darin keine ihn einschränkende Hypertrophie des Adiaphorischen erblicken und unserem gütigen alten Weisen di mehreren Worte dankbar gönnen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung