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ERINNERUNG AN TSCHAIKOWSKY

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Muß die Beziehung zum Ding, zum Gegenstand, muß der Abklatsch der Formen, wie sie unser Bewußtsein als Wirklichkeit gibt — vielleicht nur „ausgibt“ —, die alleinige Aufgabe der Kunst sein? Hermann Bahr war es, der in seiner Schrift „Expressionismus“ dieser noch unausgesprochenen, aber in der Luft liegenden Frage 1916 Ausdruck gab — hier wieder als Herold und Vorwegnehmer kommender Entwicklungen. Man überzeugt sich davon, wenn man diese Schrift heute liest.

Darum werden in der Musik, in der bildenden Kunst, in der Literatur die überkommenen Formen gesprengt In der Dichtung wird die ursprüngliche Verwandtschaft zwischen dem Dichter und dem Magier, dem Zauberer wiederhergestellt. Man denkt hier unwillkürlich an den ersten Dichter deutscher Zunge, den ungenannten Autor der Merseburger Zaubersprüche, der zugleich Magier war: er dichtete, um eine Wirklichkeit zu zerbrechen, zu verwandeln. Auch die Dichter der „Moderne“ wissen wieder um die Magie des Wortes. „Sie spricht Worte um der Worte willen“, sagt Hofmannsthal von der Dichtung, das ist ihre Zauberei. „Um der

magischen Kraft willen, welche die Worte haben, unseren Leib zu rühren und uns unaufhörlich zu verwandeln.“

Die Kunst der Wiener Moderne will also mehr, als bloß im aristotelischen Sinn rühren und erschüttern. Sie zielt auf eine Verwandlung des Menschen, sie will ihn schockieren, brüskieren, sie will ihn dadurch, aus der Erschütterung heraus, zu einem Fragenden, Handelnden machen. Wieder greifen hier die Künste sozusagen ineinander, um einander zu bestätigen und zu bekräftigen: in der Lyrik die Todesvisionen Trakls, in der Erzählung die Gesichte jenseits unserer durch den Schleier unseres Bewußtseins erlebten Wirklichkeit eines Franz Kafka, in der Malerei die Porträts des aufgerissenen, mit seinem Inneren bloßliegenden Menschen Oskar Kokoschkas.

Für alles das gibt die apokalyptische Endzeit vor dem ersten Weltkrieg und dem Untergang der Monarchie den Rahmen ab. Warum gerade diese Zeit diesen künstlerischen Ausdruck fand, diese Frage wäre noch eines eingehenden Studiums wert. Auf jeden Fall ist ihre Beantwortung ohne die Berücksichtigung des Falles „Österreich“ nicht denkbar.

Das kleine Haus war ganz vertrocknet, ob vor Alter oder weil es in so dichtem Wald stand, daß nicht mal bei geöffneten Fenstern der Wind eindringen konnte. Doch Tschai-kowsky hing an diesem Hause. Das Einzige, was ihn darin aufregte, waren die knarrenden Bodenplanken.

Zwischen Tür und Klavier waren fünf solcher vorhanden, und es war spaßig, zu sehen, wie der bejahrte Komponist, mit zwinkernden Augen den Boden betrachtend, den Weg zum Klavier zurückzulegen suchte, ohne eine knarrende Planke zu betreten. War ihm das gelungen, so saß er lächelnd am Klavier <— das Unangenehme war überstanden, das Herrliche konnte folgen: zu den Klängen des Klaviers würde das alte Haus gleich mitzusingen anfangen, jede angeschlagene Taste würde einen Widerhall finden, in den ausgetrockneten Dachsparren, in Tür- und Fensterrahmen, im greisen Kronleuchter, der schon die Hälfte seiner Kristallhänger verloren hat. Den Wohlklang der unbelebten Gegenstände bewundernd, meinte Tschaikowsky, es sei ein herrliches Begleitorchester zu seinem Klavierspiel.

Es kam vor, daß der Meister nachts bald die eine, bald die andere Bodenplanke knarren hörte, als sängen diese seine am Tag gehörte Musik nach, manchmal klang ihm aus diesen Tönen eine neue Melodie, die ihm aber bis zum Morgen stets entfallen war. Er strengte sein Gedächtnis an und seufzte, es tat ihm leid, die nächtlichen Töne nicht nachspielen zu können. Er dachte: das Leben geht vorüber, und noch habe ich das Wichtigste nicht getan, habe nicht verstanden, die Melodie wiederzugeben, die beim Anblick eines Regenbogens, eines herrlichen Sonnenunterganges entsteht — je einfacher solch eine Stimmung ist, desto schwerer ist sie in Musik auszudrücken.

Wenn er komponieren wollte, wartete er nie auf eine Eingebung, er arbeitete wie ein Taglöhner, und die Eingebung kam mitten in der Arbeit. Am besten kam sie hier, inmitten des Waldes, deshalb lebte er so gern in diesem alten Haus. Zum Glück gab es zuweilen erstaunliche Tage, wie zum Beispiel heute: Wenn er längs dem Waldweg, den er Schritt für Schritt kennt, bis in den dichtesten Teil des Waldes geht, wird das in seinem Inneren gefesselte musikalische Thema endlich überborden und sich in einem Strom so wunderbarer Töne ergießen, daß er erstaunt sein wird, so Herrliches komponiert zu haben! Und so geschah es ...

Während er nachmittags spielte, kam das Dorfmädchen Fenja und brachte ein Körbchen Erdbeeren zum Verkauf; dann kam noch der Waldhüter Wassili, setzte sich auf die Stufen der Anfahrt und fragte den Diener: „Er spielt? Darfst ihn wohl nicht stören?“

„Keinesfalls! Strengstes Verbot. Er denkt neue Musik aus f~ eine heilige Sache.“

„Das wird schon so sein... aber vielleicht meldest du ihm doch, daß ich hier sei?“

„Ich bin beauftragt, seine Ruhe zu bewachen.“

„Bewach nur nicht zu streng; was mich herführt, ist wichtiger als seine Musik.“

„Oh! Ich könnte den ganzen Tag zuhören“, sagte Fenja. „Hörst du? Ein barfüßiges Mädchen hat mehr Verständnis als du, und überhaupt — wer weiß, was dich herführt!“

„Ich will mir bei Pjotr Iljitsch Rat holen: Der hiesige Gutsbesitzer hat den Wald an einen Kaufmann namens Troschtenko verkauft, morgen kommen bereits Arbeiter, um mit dem Fällen der Bäume zu beginnen.“

„Und was geht dich das an?“

„Dienst bei einem guten Herrn und hast eine Seele gleich einer hohlen Nuß. Was mich das angeht! Ich hüte den Wald seit meiner Kindheit, habe jeden Baum wachsen sehen! Man muß Klage einreichen!“

„Bei wem?“

„Beim Gouverneur, der Landverwaltung, dem Senat!“

„Der Senat wird sich um den Wald nicht kümmern wollen...“

„Dann — beim Zaren selbst...!“ * Als der rote Schein der Abenddämmerung sich in den Fensterscheiben widerzuspiegeln begann, riß die Musik ab, eine Tür kreischte, Tschaikowsky trat heraus. Wassili ließ sich vor ihm auf die Knie nieder: „Hilf, Pjotr Iljitsch! Laß nicht zu, daß solches geschehe!“ Vor Aufregung konnte Wassili lange nicht erklären, was geschehen sei, dann war er ganz bestürzt, in welche Wut seine Mitteilung den alten Herrn versetzte. Rot im Gesicht, rief dieser laut: „Rasch! Pferde einspannen... !“ — Später konnte er sich noch an diese nächtliche Fahrt erinnern: der Wagen wurde auf dem schlechten Waldweg hin und her geschleudert, die Äste der Bäume schlugen ihm ins Gesicht, er hatte nur einen Gedan-

ken, nicht zu spät zu kommen, wenn der Gouverneur sich schon schlafen gelegt hätte, er kannte ihn — hatte ihn mal bei einem Wohltätigkeitskonzert kennengelernt. Endlich war die Stadt erreicht, aus den Fenstern des Gouverneurhauses drangen Stimmen, Lachen und Musik — so waren also Gäste versammelt, das beruhigte Tschaikowsky; man führte ihn auf die Terrasse, wo der Hausherr am Teetisch saß, der stand auf und begrüßte den unerwarteten Gast...

„Die bestehenden Gesetze“, sprach der Gouverneur langsam, „lassen mir keine Möglichkeit, gegen den Verkauf etwas zu unternehmen, der Wald ist Privateigentum, ich weiß nicht, was Sie Gesetzwidriges dabei finden?“ — Tschaikowsky schwieg, was sollte er antworten? Daß man Schönes nicht vernichten sollte? Daß solche Vernichtung dem Land Schaden bringt? „Es tut mir leid“, beschloß der Gouverneur das Gespräch, „die Forderungen einer künstlerischen Natur stehen oft in Widerspruch zu kommerziellen Interessen.“

Tschaikowsky verabschiedete sich und fuhr heim. Er überlegte, was sich noch unternehmen ließe. Es gab wohl einen Ausweg: den Wald Troschtenko abzukaufen, doch wo das Geld hernehmen? Ihm kam ein Gedanke: Seinem Verleger nach Moskau eine Depesche senden, als Pfand für das nötige Geld seine zukünftigen Kompositionen anbieten. Dieser Entschluß schien ihn beruhigt zu haben. Welches Glück, den Wald retten zu können, diesen Wald, der untrennbar verbunden war mit seinem Schaffen, nur mit Hilfe dieses Waldes würde er die gestern begonnene Arbeit zu Ende führen können... Der Morgen nahte, es begann zu dämmern.....Dreh ab nach rechts! Ich will zu diesem... wie

heißt er da? Troschtenko.“

„Kommen wir nicht zu früh hin?“ meinte der Kutscher.

„Tut nichts, sonst versäume ich ihn am Ende.“ Er versäumte ihn trotzdem, der Kaufmann sei eben dorthin gefahren, wo man mit dem Fällen der Bäume beginnen wollte. Tschaikowsky fuhr ihm nach — dort sah er Troschtenko von Baum zu Baum gehen und mit einer Axt die zum Fällen ausgesuchten Bäume zeichnen. L. i9“öi9l aasiwra

„Womit kann ich dienen?“ fragte er den sich ihm nahenden Tschaikowsky. Dieser sprach von seiner Absicht, ihm den Wald abzukaufen. „Ein unerwarteter Vorschlag..., ich muß es mir überlegen, kommt ja auf den Preis an, den Sie zahlen wollen.“

„Nennen Sie den Preis, ich habe nicht die Absicht zu handeln.“

„Das nehme ich auch nicht an, Sie sind ja ein Mann aus der hohen Sphäre ... Also: 10.000.“

„Einverstanden“, sagte Pjotr Iljitsch, fühlte aber dabei eine merkwürdige Kälte in der Brust, als stelle er sein ganzes Leben auf eine Karte. „Besitzen Sie auch die nötige Summe?“ fragte der Kaufmann.

„Ich werde sie besitzen.“

„Einmal werden wir das Reich Gottes besitzen, das Geld will ich aber gleich haben.“ „Ich stelle Ihnen einen Wechsel aus.“ „Auf welches Pfand?“ „Auf meine Werke...“

„So, so, auf die Musik? Heute ist Ihre Musik etwas wert, was morgen ist, kann man nicht wissen. Nein, ich nehme nur Bargeld. Und was den Preis betrifft, so war es ja nur ein provisorisches Gespräch ... Wenn Sie mir morgen 15.000 auf den Tisch legen, soll der Wald Ihnen gehören.“

Tschaikowsky war über die Habgier empört. Er fuhr heim und gab sich Mühe, das Klopfen der Äxte zu überhören. Da sah er, wie eine große Fichte zu wanken begann, dann dröhnend zu Boden fiel und seinem Wagen den Weg versperrte. Er stieg aus und ging zu Fuß weiter. „Gemeinheit“, murmelte er vor sich hin, „wer hat den Menschen das Recht gegeben, die Natur zu verunstalten, nur damit ein Troschtenko mit seinen schmutzigen Händen die vielen Geldscheine zählen kann!“ Er konnte vor Wut kaum atmen und meinte, diese kurze Unterredung hätte ihn um Jahre gealtert, er würde die gestern begonnene Arbeit nicht mehr beenden können...

Zu Hause ließ er die Sachen packen, setzte sich inzwischen ans Klavier, doch in seinem Geist, wo gestern so viel herrliche Töne entstanden, war jetzt nur eine große Leere.

„Räuber, Spekulanten treiben ihr Spiel in unserem Lande“, dachte er, „wann nur kommt die gerechte Strafe über sie? Einmal wird doch in meinem Vaterland die glückliche Zeit anbrechen...“ Und er träumte von dieser glücklichen Zeit, dann würde er freudig, mit raschem, leichtem Schritt das Dirigentenpult besteigen, und das Orchester von 500, nein von 1000 Instrumenten würde die jubelnden Töne seiner neuen Symphonie anstimmen... Er warf dröhnend den Klavierdeckel zu und stand auf...

Am Abend dieses Tages kam Wassili wieder, sah durch die Fenster die leeren Zimmer und dachte: „Der gütige, alte Herr war bereit zu helfen, doch reichte scheint's seine Kraft dazu nicht aus.“ Da hörte er Schritte — Troschtenko stand vor ihm.

„Was willst du von dem Herrn?“ fragte Wassili. „Muß mit ihm über den Verkauf des Waldes reden.“ „Red mit mir, der Wald gehört mir eher als ihm ...“ „Bist du verrückt?“

„Mach, daß du fortkommst, sonst...“ und Wassili hob drohend die Faust...

So wurde der Wald abgeholzt, und Tschaikowskys siebente Symphonie blieb ungeschrieben.

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