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"Gute Ansichten sind wertlos. Es kommt darauf an, wer sie hat“, schreibt Karl Kraus einmal. Daß die Menschen nicht so sind, wie Gott sie haben will, dieser älteste Gemeinplatz allen Moralisierens, ist zugleich das tiefste Erlebnis des Satirikers. Sünde ist überall. Man kann sie als eigene Sünde in furchtbarer Realität erleben: dann wird man vielleicht ein Heiliger. Oder man erlebt sie mehr als die Sünde der Welt, als ein schreckliches, Gott angetanes Unrecht. Dann wird man ein Prophet oder, in einer völlig ästhetisierten Zeit, die das Wahre und Gute vorzugsweise als das Schöne erlebt (und darum so häßlich ist), — ein Satiriker. So mag es zuweilen scheinen, daß der Aesthet und der Satiriker die gleiche geistige Bewegung vollführen: sie hassen das Häßliche — aber aus gänzlich verschiedenen Beweggründen! Der Aesthet steht auf der niedrigsten Stufe der Schönheitserkenntnis, der Satiriker auf der höchsten. Gerade in Wien, wo die Aestheten zu Hause waren, lebte auch Karl Kraus, ihr Widerpart und ihr Pfahl im Fleisch.

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Es hing mit Karl Kraus' satirischer Berufung zusammen, daß sein Scharfblick nicht nur von der schlechten Einzelheit aufs schlechte Ganze schloß, sondern auch, daß diese Einzelheit ihn geradezu suchte, daß sie ihm zuflog. Er klappte ein Buch auf, und sein Blick fiel unweigerlich auf dessen schwächste Stelle, auf jene, die das Ganze entlarvte. Das war bei Kraus keineswegs böser Blick oder böser Wille, sondern, wie gesagt, Berufung und Schicksal . Ein Beispiel hiervon erlebte ich während einer Regie-Pause im Rundfunkhaus. Im Nebenzimmer begann das Radio zu sprechen, mitten aus einer Rede des Erzbischofs Söderblom auf dem Oekumenischen Kongreß. Kraus lauschte mit halbem Ohr hin. Nach einigen Worten über die Wiedervereinigung der Kirchen sagte Söderblom: „Rom fehlt vorläufig noch ...“ (Das ist so, wie wenn man sagen würde: „Die Hochzeit ist im schönsten Zuge; die Braut fehlt vorläufig noch...“) Karl Kraus stellte das Radio schleunigst ab.

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Seine Arbeitsweise. Er schlief am Tage nicht mehr als vier bis fünf Stunden, und auch das nur mit Hilfe von Schlafmitteln. Dann nahm er seine Mahlzeit zu sich (er aß nur einmal am Tage) und begab sich abends Ins Cafe, welches der einzige Ort war, wo er mit Menschen — sehr wenigen — zusammenkam. Etwa um ein Uhr nachts setzte er sich an den Schreibtisch. Die erste Niederschrift ging wie im Fluge. In der nächsten Nacht lag sie, von der Druckerei übersandt, im Abzug vor, und nun begann das Schwerste: Zusätze, Streichungen, Veränderungen, die das Ganze immer weiter umgestalteten. In der nächsten Nacht lag die korrigierte Arbeit -wiederum gesetzt vor, und das ging so Nacht für Nachr, auf dieselbe Art weiter. Meist gab es ein Dutzend solcher Fassungen, die aus einander hervorgingen wie die Ringe im Baumstamm, denn Kraus konnte sich in seiner Sorge um das Wort nie genugtun.

Wenn ich eine Arbeit beginne, — erzählte er einem Freunde —, dann habe ich beim Ergreifen der Feder keine Ahnung von der Struktur oder den Einzelheiten der Arbeit. Doch mit dem ersten hingeschriebenen Satz fühle ich bereits aus dessen grammatikalischer Spannung, wie lang die Arbeit werden wird, und das hat mich noch nie getäuscht. (Man könnte dieses Gefühl mit dem eines Brückeningenieurs vergleichen, der aus dem ersten Bogenansatz die Gesamtspanne erkennt.) Das Schreiben geht dann pausenlos fort bis zur völligen Erschöpfung. Stehe ich endlich auf und gehe zur Erholung ins Freie, dann bin ich zuweilen geistig so ermüdet, daß ich nicht einmal die Zeit vom Zifferblatt einer Turmuhr abzulesen vermag.

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Es gehört zum Wesen des Satirikers, daß er nicht allein die Menschen durchschaut, sondern auch ihre Aeußerungen nachahmen, ja vorahnen kann. Eines Tages, als irgendein Ereignis eingetreten war, von dem alle sprachen, sagte Karl Kraus: „Wenn der X. heute an den Tisch kommt, wird er folgendes sagen —“ und sprach nun völlig in der Sprechweise des X. einige Sätze. Nach einer Weile kam X. wirklich an den Tisch und sagte, zum allgemeinen Erstaunen, Wort für Wort dasselbe in genau demselben Tonfall.

Merkwürdigerweise wird von dem russischen Satiriker Gogol das gleiche berichtet. (Karl Kraus hat Gogols „Revisor“ oft vorgetragen.)

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Einmal sagte er: „Sollte ich jemals einen Roman schreiben, so würde der in zwei anliegenden Kaffeehaus-Zimmern spielen und einen Zeitraum von zwanzig Jahren umspannen.“ — Und die Handlung? fragte ich. — „Die Handlung würde darin bestehen, daß sich ein Kaffeehausgast aus einem Zimmer ins andere setzt.“

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„Die Fackel“, dieses 36bändige Lebenswerk, wurde buchstäblich mit nichts gegründet. Kraus' Vater leistete dem Drucker eine gewisse Garantie, — das war alles. Aber die Zeitschrift hatte Erfolg und erhielt sich von selbst. Ab 1911 schrieb Kraus die „Fackel“ allein, auch verzichtete er seitdem auf Annoncen. Sein Papier zum Schreiben (wertloses Restpapier) erhielt er von der Druckerei geliefert, auch hat er sein Leben lang denselben billigen Holzfederstiel benützt. Zwei Arbeiter dieser vorbildlichen Druckerei (Jahoda Sc Siegel) waren einzig mit dem Setzen von Kraus' Manuskripten beschäftigt, — keine leichte Arbeit, da dessen winzige Handschrift schwer zu lesen war. (Winzig, weil von Gedanken gehetzt.) Die beiden waren ein alter Setzer und ein junger, den der Alte angelernt hatte. Sie gingen in ihrer Arbeit auf und waren stolz auf sie. Seltsamerweise sind sie beide, der Alte und der Junge, im Laufe eines halben Jahres nach Kraus' Tode (1936) gestorben. Vielleicht war auch ihnen die Welt langweilig geworden. Karl Kraus' Sorge für die sprachliche Gestalt ging so weit, daß er zuweilen um eines Kommas willen die fertiggedruckte Auflage hat vernichten lassen. So hatte es der Drucker bei ihm nicht leicht, und der Besitzer Jahoda ging mit dem Gedanken um, das einmal Karl Kraus in aller Freundschaft zu sagen. Doch an dem Tage, als er's sagen wollte, langte in der Setzerei das wunderbare Gedicht „An meinen Drucker“ an, — und damit war alles wieder gut. So hat der providentielle Zufall auch hier seine Rolle gespielt.

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Seit der 1916 beginnenden Elendszeit in Oesterreich hat Kraus all sein Geld, das er nicht für den Lebensunterhalt brauchte, den Armen, Kriegsblinden, den Kriegerwaisen usw. gespendet. Das machte, im Ganzen, ein Hunderttausend-Vermögen aus. Seine Einnahmen stammten aus der „Fackel“ und aus den Vorlesungen. Diese unvergeßlichen Vorlesungen, die stets überfüllt waren, obwohl sie weder angezeigt noch in der Presse besprochen wurden, öffneten uns die Wunderwelt von Shakespeare, Goethe, Gogol, Nestroy, Raimund, Offenbach und vielen anderen, — sie bedeuteten eine Geistesausstrahlung, wie sie sonst kaum ein klassisches Theater erreicht. Das sagenhafte „alte Burgtheater“, aber auch die verschollene Wiener Volksbühne fanden ihre Fortsetzung, ja ihre Vollendung in Karl Kraus. Das alles geschah in doppeltem Sinne „zu wohltätigem Zweck“.

Natürlich machte Kraus einen Unterschied zwischen Rilke und den Schmöckcn, ja auch zwischen Hofmannsthal und ihnen, aber dennoch verursachte ihm das Preziöse und der Snobismus der beiden viel Unbehagen. Er versicherte mir, mit eigenen Augen einen Rilkebrief gesehen zu haben, wo in der Datierung „July“ mit dem Ypsilon geschrieben war. „Sechzigtausend Briefe hat er geschrieben — und es ist immer derselbe Brief.“ Als die Rede auf „Malte Laurids Brigge“ kam, sagte Kraus: „Dieser Mann bewegt sich ständig zwischen acht Spiegeln.“

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Kraus hatte sich noch vor dem ersten Weltkriege mehrfach für Thomas Masaryk eingesetzt. Die Tschechen betrachteten Kraus als ihren Dichter und waren stolz auf ihn; seine Werke wurden meisterhaft ins Tschechische übersetzt. Auch wurde er von Präsident Masaryk mehrmals in den Hradschin eingeladen. Von diesem Besuch in der Kaiserburg erzählte er mir einmal und sprach dabei mit hoher Achtung von Masaryk. Doch in seiner Wiedergabe von dessen Sprechweise schlichen sich unmerkliche Nuancen ein, die einen Kommentar verlangen. — Zu den feststellenden komischen Typen Wiens gehörte der „Böhm“ (zum Beispiel im Volksstück „Der Böhm in Amerika“), denn so reagierten die Wiener auf jene tschechische Invasion, die nach 1848 ihre Stadt durchdrang. Die Quintessenz des Böhm war der böhmische Hausmeister, der im typischen Tonfall sprach, erbarmungslos seine Sperrsechserl abverlangte und sich stets in irgendeiner Sorge um die Abortanlagen des ihm anvertrauten Hauses befand. Als mir nun Kraus erzählte, wie Masaryk mit ihm durch die Ahnengalerie des Schlosses gewandelt sei, hörte ich aus den Reden des greisen Staatsoberhauptes leicht angedeutete böhmische Nuancen herausklingen ... „Ja“, sagte Masaryk mit einem Blick auf die goldgerahmten Porträts — „das sind nun die Kaiser. Die lassen wir ruhig hängen, an dem ganzen Schloßtrakt wird nichts geändert. Das ist die Vergangenheit. (Verloren aufblickend:) Nur mit den Abortlokalitäten war das nicht in Ordnung... die haben wir natürlich renovieren müssen...“ In diesem Augenblick konnte ich mein Lachen nicht mehr verbeißen. Man verstehe: Kraus spottete keineswegs über Masaryk, er schätzte ihn hoch. Doch sein unbestechlicher Blick hatte irgendeine kaum merkliche Verwandtschaft mit dem Hausmeistertyp entdeckt, und er brachte das künstlerisch zum Ausdruck. Die Wohltuende Nüchternheit des Tschechentums lag darin und eine, gerade durch die Hochschätzung kontrastierte, ungeheuerliche Komik.

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Selbstverständlich hatte Kraus nichts mit dem niedrigen Typus des „Tischhumoristen“ gemein, der seine Pointen knattern läßt und eine gesellschaftliche Belästigung darstellt. Doch er war eben auch ein schauspielerisches Genie, und das fand zuweilen seinen natürlichen Ausdruck in der Anekdote. Einmal erzählte er die bekannte Geschichte vom jüdischen Ladeninhaber, der auf dem Sterbebett liegt und seine Familie um sich versammelt: „Rosa, mein Weib, bist du da?“ — ,Jch bin da.“ — „Jakob, mein Sohn, bist du da?“ — „Ich bin da.“ — „Sara, meine Tochter, Rahel, meine Tochter, seid ihr da?“ — „Wir sind da.“ — „Seid ihr alle da?“ — „Wir sind alle da, Vater.“ (Der Sterbende, sich entsetzt vom Kissen aufrichtend:) „Und wer is im Geschäft??...“ In Kraus' Erzählung wurde das zu einem erschütternden Drama. Ein Genie-Sketch von anderthalb Minuten, in dem die ganze jüdische Tragikomik lag.

Ein anderes Mal erzählte ich ihm eine Geschichte vom Tempeldiener (dem „Schammes“), der zu Jörn Kippur vor dem Synagogen-Eingang steht und streng die bezahlten Eintrittskarten kontrolliert. Da eilt der Meier auf ihn zu und sagt hastig: „Lassen Sie mich 'nen Moment so herein, ich will bloß dem Weiß da drinnen was Wichtiges sagen...“ Da schaut ihn der Schammes durchdringend an und sagt: „Ganef, — du willst beten!“

Noch mitten im Lachen rief Kraus: „Wahrscheinlich hat er ihm die Absicht vom Gesicht gelesen...“ Großartig, wie diese Bemerkung den Herzpunkt der Geschichte trifft.

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Karl Kraus und die Kirche. Karl Kraus ist etwa 1912 katholisch geworden, doch erst im Jahre 1920, als er seinen Austritt aus der Kirche bekanntgab, erfuhr man überhaupt davon. Was ihn zum Eintritt bewogen hat, kann man nur erraten. Nach der einen Version soll dabei der Einfluß seines Freundes, eines Polen, Ludwig Ritter von Janikowsky, mitgewirkt haben. (Diesem Freunde hat Kraus sein erstes Buch, „Sittlichkeit und Kriminalität“, gewidmet und ihm später einen wunderbaren Nachruf in der „Fackel“ geschrieben.) Zugleich soll aber auch ein Vorkommnis in Bad Ischl auf Kraus einen bestimmten Eindruck gemacht haben. Kraus sei mit mehreren Freunden frühmorgens in übermütiger Laune nach Hause spaziert. Auf der menschenleeren Straße sei ihnen ein Priester beim Versehgange mit den heiligen Gaben begegnet. Einer der Lustigen habe dabei ein unangebrachtes Scherzwort gerufen — und darauf sei etwas Erschütterndes oder Wunderbares geschehen; (was, wußte man mir nicht zu sagen). Das habe Karl Kraus dazu bewogen, katholisch zu werden. Einer anderen Version nach soll Adolf Loos Einfluß auf Kraus' Uebertritt gehabt haben und auch der Taufpate gewesen sein. Wer Kraus' unabhängigen Charakter gekannt hat, wird diese Einflüsse zwar gelten lassen, aber zugleich wissen, daß der eigentliche Beweggrund, außer bei Gott, nur in ihm selber gelegen haben kann. Man kann diesen aus Stellen seiner Schriften jener Zeit erraten; es heißt zum Beispiel da einmal: „Werdet Christen aus Notwehr!“ Aus Notwehr gegen den scheußlichen Zeitgeist, der ja damals, 1912, sich bereits zu dem Weltverbrechen des großen Krieges anschickte. Es war das gewissermaßen das Zeichen einer Demarkationslinie. Nicht so sehr ein positives Ergreifen als eine negative Abwehr.

Und dem entspricht auch sein Austritt aus der Kirche. Unmittelbarer Anlaß dazu waren die Vorgänge bei den Festspielen in Salzburg, wo das Stück „ledermann“ in der Säulenhalle einer Kirche gespielt wurde. Die ganze Wiener Schmockerei, der sein Lebenskampf galt und die damals in Salzburg ihre Orgien feierte, sah Kraus damit von der Kirche sozusagen sanktioniert. Um dieser ihm unerträglichen Gemeinschaft zu entfliehen, sagte er sich von der Kirche los.

Doch hier, bei der Kirche, war der Punkt, wo Kraus' satirische Erkenntnismethode, nämlich von der Einzelheit aufs Ganze zu schließen, nicht mehr zu Recht bestand. Die These, daß das Aeußere eigentlich das Innere sei, trifft — so wahr und tief sie im übrigen ist — auf die Kirche Christi nicht mehr zu, weil in ihr Aeußeres und Inneres inkommensurabel sind. Kraus sah die Vorhalle der Kirche von seinem Todfeind, der Schmockerei, besetzt und wollte darum mit ihr nichts mehr zu tun haben: er maß die Kirche mit seinem Maßstab. Was ihn empörte — daß hinter der Vorhalle immer noch das Meßopfer vollzogen wurde —, hätte ihn im Gegenteil dazu bewegen sollen, die Theaterhändler aus dem Tempel zu vertreiben, nicht aber diesen selber zu verlassen. Selbst der wichtigste Kulturkampf gegen das Schrnockertum steht auf einer änderen Ebene als die Verbindung mit Christus und seiner Kirche. Karl Kraus muß wohl der tiefere Glaube an die Kirche gemangelt haben. Ich habe mit ihm nie darüber gesprochen, auch nicht nach meiner eigenen Konversion. Doch ich erinnere mich eines Ausspruches von ihm, etwa zwölf Jahre nach seinem Austritt: „Man kann ja auch Christ bleiben, ohne in der Kirche zu sein.“ Das war allgemein gesagt, doch es zielte offensichtlich auch auf ihn selbst. Er meinte also, daß man, mit Uebergehung der sichtbaren Kirche, zu einer unsichtbaren Kirche Christi gehören könne. Aber eben das kann man nicht. Kirche ist Tischgemeinschaft — auch Judas Ischariot saß an diesem Tische. Man konnte nicht wegen des Judas von dem Tische aufstehen, denn auch Christus saß an dem Tische und hat dem Judas die Füße gewaschen.

In der Zeit, als er zur Kirche gehörte, hat Kraus sein bedeutendes Werk, „Die letzten Tage der Menschheit“, geschaffen. Wer Karl Kraus liebt, muß sich mit der Gewißheit bescheiden, daß Gott ein gerechter Gott ist. „Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“

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Die satirische Linie der „Fackel“ nahm anfangs ihre Richtung gegen die Korruption, doch nach ein paar Jahren war dieses Thema konsumiert, und der Schwung begann zu erlahmen. Dann war das große Thema des Geschlechts und dessen Schicksal in dieser Welt, welches die „Fackel“ auf ihren Weg künstlerischer Satire brachte, der immer steilere Höhen bezwingen sollte. Doch in der Spiral-abdrehung der Entwicklung setzte Mitte der zwanziger Jahre wiederum ein Kampf gegen die Korruption ein — der zweijährige Kampf gegen den Erpresser Bekessy, der mit dessen Flucht aus Wien endete. Imre Bekessy aus Budapest gab damals in Wien drei Journale heraus, und die ganze Stadt zitterte vor ihm, dessen Spezialgebiet Sexualschnüffelei war. Ein Telephonanruf von Bekessy kam einem vorgehaltenen Revolver gleich, und es wurde gezahlt.

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Während des Bekessy-Kampfes hat ihn keine Stimme der Oeffentlichkeit wirklich unterstützt, obwohl er damit doch allen half. Ich erinnere mich aus der Zeit einer Szene im Café, die fast unheimlich war. An einem unweiten Quertisch pflegten sich die Turfbesucher, Pferdehändler und Börsenjobber zu versammeln. An einem Tage, da Bekessys Blatt „Die Stunde“ wieder Schandbilder von Kraus gebracht hatte, begann dieser Nebentisch zu tuscheln und kichernd auf Kraus zu blicken. Da richtete sich Karl Kraus langsam auf, bis er stand, und blickte mit seinen unglaublich blitzenden blauen Augen auf die Leute... So stand er, fast eine Minute lang, bis das Tuscheln erstarb und die frechen Blicke sich gesenkt hatten.

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Karl Kraus redete selten über weltanschauliche Dinge, da ja seine Weltanschauung in jedem Wort, das er sprach, bereits enthalten war. Doch erinnere ich mich, daß unser Kreis einst den Rang der verschiedenen Künste erörterte. Einige wollten eine solche Hierarchie nicht anerkennen, doch Kraus war natürlich für den Vorrang der Wortkunst vor der Musik, Malerei, Architektur usw. Interessant war dabei ein von ihm angeführtes Argument. Die Wortkunst, sagte er, sei die einzige, deren Schöpfungen sich (durch Abschreiben oder Druck) völlig identisch produzieren ließen. — Mit seinem bekannten Kokoschka-Oel-porträt war er nicht ganz zufrieden, da hier mehr Kokoschkas Vision als Karl Kraus' Wirklichkeit dargestellt sei. Ich bemerkte damals, die Gesichtszüge eines bedeutenden Menschen seien auch eine Art Kunstwerk, das der Träger im Verlaufe seines Lebens unbewußt geschaffen habe. Der Porträtist habe dieses unmittelbarste Lebenswerk, das Haupt, zu respektieren. Kraus pflichtete mir dariti bei. Wie bedauern wir es heute, daß in dem Kokoschka-Porträt so wenig vom wirklichen Kraus enthalten ist! Denn leider vermag ja auch die beste Photographie nicht jene lebendige Summe der Züge zu ziehen, die ein künstlerisches Porträt bedeutet. Goya hätte ihn malen können!

Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre hat Karl Kraus viele Radiosendungen im Berliner Rundfunk veranstaltet: Offenbach-Inszenierungen, Shakespeare-Inszenierungen, Nestroy-Vorlesungen und auch Vorlesungen eigener Gedichte. Die wichtigsten Stellen dieser Sendungen wurden auf Wachsplatten aufgenommen und fixiert. Die Aufnahmen waren im Rundfunk-Archiv aufbewahrt. Als die Nazi kamen, wurden diese Aufnahmen im Geheimarchiv abgestellt. Ein Freund von mir knüpfte 1942 Bekanntschaft mit einem verständnisvollen Archivbeamten an und erhielt von dem ein vollständiges Register der dort vorhandenen Kraus-Auf-nahmen: es waren über vierzig Nummern. Einmal hatten wir uns sogar eine Platte ausgeliehen, was für den mutigen Beamten ein Wagnis bedeutete. Diese Platte enthielt auf der einen Seite die wunderbare Metella-Arie aus Offenbachs „Pariser Leben“, von Kraus gesungen, und auf der anderen Seite Kraus' Gedicht „Zum ewigen Frieden“. Wir hatten die Wohnung wegen der Verdunkelung dicht verhängt und legten nun in gespannter Erwartung die Platte aufs Grammophon. Aber man hörte nur grauenhafte Töne, wie das Lallen eines Taubstummen, denn diese Platte mußte von innen nach außen abgespielt werden, und dazu war unser Apparat nicht eingerichtet. Wir versuchten es dann aber doch. Plötzlich war des Verstorbenen Stimme im Raum und sprach klar und deutlich: „Nie las ein Blick, von Tränen übermannt, / ein Wort wie dieses von Immanuel Kant../ Dann brach die Stimme mit einem Klageton ab. In demselben Augenblick erdröhnten die Luftabwehrbatterien, denn es kam ein Angriff. Auch nach seinem Tode gab es bei Karl Kraus keine Zufälle.

Nach 1945 habe ich an das von den Russen besetzte Funkhaus geschrieben, um eine Sicherstellung dieser künstlerischen Schätze zu veranlassen. Ich habe auf meinen Brief keine Antwort erhalten.

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