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Erinnerungen an Peter Altenberg

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WIDERHALL DES HERZENS. Von Helga Malmberg. Verlag Albert Langen- Georg Müller, München 1961. 276 Seiten.

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WIDERHALL DES HERZENS. Von Helga Malmberg. Verlag Albert Langen- Georg Müller, München 1961. 276 Seiten.

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Auf den ersten Anblick dünkt uns dieses Buch der Erinnerung an Dichter und Schriftsteller, an Künstler und Kunsthändler der letzten Jahre des noch kaiserlich-königlichen Wien ein geistiges Phänomen zu sein, das nicht nur — wie einer, der sich aufblähte und wähnte, weltweite Bedeutung zu besitzen, der aber heute sogar am Hochsitz seines Waltens nur noch nichtet und nicht dichtet, richtet, von einem ändern, dessen Spuren kaum in Äonen Jahren untergehen werden, höhnte — „schon in den Wiener Vorstädten zu Ende ist“, sondern auch in deren noch engerem Herzstück, der Inneren Stadt, genauer: in deren Cafes Central und Herrenhof, den Brennpunkten der Literatur (ohne und vor allem mit Anführungszeichen). Verfaßt von einer Literatin, dem Thema nach bestimmt vorab für Literaten. Alles beschauend durch das Tinte weinende, sentimentale und gewinnend unressentimentale Temperament dieser Literatin, haben diese Bekenntnisse einer unbezweifelbar schönen Seele indessen außer dem literarischen ~wei weitere Aspekte, und sie sind es, die dem Tag-und-Nacht-Buch Helga Malmbergs die Anteilnahme, ja das tiefste Interesse breiter Leserschichten und forschender Fachleute sichern sollten. Es ist ein psychologisches Dokument ersten Ranges, an dem ein allgemeinmenschlicher Vorgang beobachtet und enträtselt werden kann: die Loslösung eines, seine ihm angeborene Umwelt als unangemessen empfindenden Erdenkindes von seinem Milieu, samt dem Einfluß, den darauf die Kräfte des Eros und die Früchte der Bildung ausüben. Wir empfangen hier ferner die Schilderung eines in seiner Sonderart abgehegten Kreises. In den Voraussetzungen, in den Bekundungen und in der Auswirksamkeit waren der Oberschicht aller kulturellen Gesellschaften die edle und unedle Lust der Sinne gemeinsam. In ihr und um ihretwillen trafen einander die große, die literarisch-künstlerische und die halbe Welt. Bericht davon bietet ein ungemein wertvolles Material für den tiefer eindringenden Soziologen, der in den Gast- inählern des Perikies und des Petronius, in denen des Aretino und der Ninon de Lencios die Vorfahren der Tafelrunde im Wiener Löwenbräu erkennen wird.

Auf alles das kann man aus den voneinander verschiedensten Perspektiven blik- ken. Zunächst, was den unmittelbaren, von der Autorin gewollten vordergründigen Inhalt des Buches betrifft, der laut Umschlag „das Wien und seine Literatencafes um 1900 lebendig werden läßt“. Also die „Literatur“ von Karl Kraus, deren Schauplatz, das Kaffeehaus, deren mit Prosa oder per Vers handelnde Gestalten, dazu die echten Poeten, voran den liebenswürdigen, unausstehlichen, liebenswerten, genialisch-verluderten, sich selbst zum Hanswurst erniedrigenden und oft von einer nichtswürdigen Korona als dieser belachten, zu sehr verwöhnten und noch mehr verwahrlosten Frauenverehrer, den, um Josef Roth zu zitieren, „heiligen Trinker“ Peter Altenberg, den Helden, die Hauptgestalt dieser Aristeia. Seine von reizsamen Augen erschauten Impressionen — Wie ich es sähe, Was der Tag mir zuträgt, Prodromos, Märchen des Lebens, Bilderbögen des kleinen Lebens, Neues Altes, Semmering 1912 und Fechsung, während des ersten Weltkrieges und gleich darauf gefolgt von Nachfechsung, Vita ipsa, Mein Lebensabend — haben ihn als echten und großen Dichter, als fähig zum adäquaten Ausdruck des beglückt genossenen oder schmerzlich erlittenen Eindrucks dargetan. Am Rang dieses Poeten, des Sprachkünstlers darf nicht gerüttelt werden. Man sollte auch ihr, Helga Maim- bergs, Licht nicht unter den Scheffel stellen (womit nicht der Butzensdheibenroman- tiker gemeint ist, den sie an Stil und Seelenkenntnis weit überragt). Sie ist und sie war, ungeachtet der großen Schatten, die damals auf sie fielen, eine Persönlichkeit, obgleich sie das, worüber sie sich Illusionen hingibt, in Wien gemäß dem dortigen Sondersinn dieses Begriffs, niemals sein konnte. Sie, die sich :hrer Umwelt ganz verschrieben und die sich ihrem bewunderten Freunde ganz ergeben hatte, die ihm mit übergroßem Verständnis alles, alles verzieh: die naive Eigensucht und die törichtesten Gesten eines meist am un- rechten Orte und stets auf fremde Kosten weichen Herzens, die angehimmelten Damen, die einander ablösenden Künstlerinnen und die schmierigen Lolitas, hat uns ein Werk der lückenlosen Aufrichtigkeit und ein Sprachkunstwerk von um so erlesener (weil nirgends erlesener) Schönheit geschenkt. Sie hat Peter Altenberg ein seiner, des Dichters, würdiges Denkmal gesetzt, und sie hat den Ausschnitt des Wiener Lebens, den sie überschaute, mochte sie auch nicht über dessen Grenzen hinaussehen, mit einer Treue, einer Eindringlichkeit und einer Anmut gemalt, die Dank, ja Bewunderung verdienen.

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