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Erinnerungen an Reimmi

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Vor mir liegt aufgeschlagen sein Buch „Menschen im Walde“. Meine Augen haften an den Zeilen der mir wohlvertrauten Schrift:

Kurz vorher hatte ich eine berufliche Fahrt nach München eigens über Innsbruck gelegt, um den Freund, den ich bald zu verlieren bangte, noch einmal zu sehen. Damals war er nicht bettlägerig, sondern saß mit mir bei Tisch in dem gastlichen Zimmer des von ihm selbst erbauten, sein heimatliches Fühlen spiegelnden Hauses nahe der kleinen Kirche von Heiligkreuz, die er als Kaplan und Expositus seit Jahrzehnten betreute. Und wie so oft in unserem Leben, wenn wir beisammensaßen, ging das Gespräch hin und her und rief Erinnerungen an gemeinsam erlebte Zeiten und Menschen wach.

Den Schriftsteller hatte ich schon früher gekannt. Den lieben Menschen und vorbildlichen Priester lernte ich im Dezember 1907 zum erstenmal kennen. Damals war er Expositus in Gries am Brenner. Dr. Aemilian Schöpfer war auf der Suche nach einem politischen Redakteur für den von der christlichsozialen Bewegung Tirols, die soeben einen gewaltigen Sieg errungen hatte, neugegründeten „Allgemeinen Tiroler Anzeiger“, der als täglich erscheinendes Blatt das schwere Ringen um die Existenz neben den bestehenden gegnerischen Blättern aufnehmen sollte, auf mich aufmerksam gemacht worden. Er stellte mir den Antrag, ich solle mir zunächst einmal das Haus der „Tyrolia“ und die Verhältnisse, unter denen die zwei bisherigen Redakteure — Bauernfeind und Grissemann, die beide schon lange hinübergegangen sind — zu arbeiten hatten, anschauen und midi dann entschließen, ob ich die Aufgabe übernehmen wolle. So kam ich zum erstenmal in das Haus Andreas-Hofer-Straße 4 und machte Reimmichl einen Besuch in Gries am Brenner. Zu Beginn des Jahres 1908 übersiedelte ich dann nach Innsbruck, um mein junges journalistisches Können als Zweiund-zwanzigjähriger in den Dienst des Blattes und der Sache, die es vertrat, zu stellen.

Da ich diesen Beginn meiner bald zu herzlicher Freundschaft sich entwickelnden persönlichen Beziehungen zu Reimmichl erwähne, fällt mir ein, daß wohl die wenigsten Leser seiner Bücher heute noch wissen, welch große Rolle schon der junge Reimmichl in der Geschichte Tirols und damit Oesterreichs gespielt hat; denn so sehr er sein Heimatland Tirol mit allen Fasern liebte, so hing er doch unlösbar am Vaterland Oesterreich, so erlebte er dessen Geschick mit gleich warmem, sich mitfreuendem und mitleidendem Herzen wie die Geschicke seiner engeren Heimat.

Er stammte aus dem Defereggental, dessen Bewohner durch ihre Unternehmungslust, Großzügigkeit und Weltgewandtheit sich auszeichnen. Die Armut des Osttiroler Hochtales zwang dazu, gewiß, aber es liegt den Defereggern auch im Blut, daß sie gerne in die Welt hinauszogen, dort mit Uhren oder Hüten handelten und in der stilleren Sommerzeit — so mancher als wohlhabender Mann — sich wieder in St. Veit oder einem anderen der freundlichen Dörfer aufhielten. Ein solcher Bauer und Handelsherr war auch schon Reimmichls Großvater, der bis nach Holland gekommen war, und sein Vater Johann Rieger, der als Haupt der Hutfabriken Ladstätter & Söhne in Prag, Lemberg und Budapest sich zurechtfand, Sprachen gelernt hatte und, nur durch Kränklichkeit bewogen, später dauernd in der Heimat blieb, um sich seinem Bauerngut zu widmen. Erbte Reimmichl vom Vater die Tüchtigkeit, die Unternehmungslust und den Weitblick, die er später seinem „Bötl“ und der „Tyrolia“ zuwandte, so konnte er mit Goethe sagen, daß er von seiner Mutter Maria die Frohnatur und die Lust, zu fabulieren, mitbekommen hatte; und noch eine Eigenschaft, eine noch schönere: die Wohltätigkeit und Hilfsbereitschaft. Neben Reimmichl und seinem in frühen Jahren verstorbenen Brüderlein Johannes wuchsen Pflegekinder im Rieger-Hause auf, solange Mutter Maria lebte.

Die früh erkannte Begabung war Anlaß, daß Reimmichl — damals rief man ihn noch allgemein mit seinem bürgerlichen Namen Sebastian Rieger — nach Brixen in das Vin-centinum kam. Die Klasse, der er angehörte, war merkwürdig genug, denn zu seinen Kollegen gehörten der spätere Professor Anton Müller, der sich als Dichter Bruder Willram nannte, der bekannte Jesuit Harrasser, der Maler Horaz Geiger, der Komponist Alois Demattia, der nachmalige Vorarlberger Abgeordnete Barnabas Fink, der Krippenbauer Ferdinand Plattner, der Naturhistoriker Dr. Karl Meusburger und Josef Grinner, der „zweite Reimmichl“ oder „politische Reimmichl“ genannt.

Am Peter-und-Pauls-Tag 1891 empfing Reimmichl die Priesterweihe. 1894 begann er Volksgeschichten unter der Ueberschrift „Was der Michl erzählt“ — dieser Michl war ein Sextener Bauer — im „Tiroler Volksboten“ zu veröffentlichen. Eine echte Berufung zum Schriftsteller bedrängte ihn, so daß er jede freie Stunde dafür verwendete, ein Eifer, der ihm den Spitznamen „Der Tag- und Nachtschreiber des lieben Gottes“ eintrug. Am 1. Dezember 1897 übersiedelte er nach Brixen und übernahm die Redaktion der „Brixner Chronik“. Die strenge Gebundenheit der journalistischen Arbeit behagte dem freiheitliebenden Dichter wenig, und so kompetierte und erhielt er die Stelle des Expositus von Gries am Brenner. Gemeinsam mit Freund Grinner redigierte er dort sein „Bötl“.

Dieses Wochenblatt verdient ein besonderes Wort des Ruhmes. In keinem anderen Land des großen Oesterreich fand es seinesgleichen. Geschrieben von zwei Männern, die niemals die innere Verbundenheit mit dem Leben ihres Volkes und der Tradition ihrer Heimat verloren und doch stets aufgeschlossen für die Notwendigkeiten der immer wieder neu erlebten Gegenwart waren, gelesen in wohl jeder bäuerlichen Familie des alten Tirol. Als ich einmal auf einsamer Wanderung aus dem wilden Rotlechtal zu dem kleinen Weiler Brand aufstieg, fand ich in dieser Einöde in jedem Bauernhof zwei Exemplare des „Bötl“. Am Samstag und Sonntag wurde gelesen, vorgelesen und diskutiert. Eltern und Kinder, Knechte und Mägde, alle nahmen daran teil. In der städtischen Bevölkerung war das Blatt weniger verbreitet, immerhin aber besaß es auch hier seine treuen Leser. Die umfangreichen redaktionellen Arbeiten, die ein solches Blatt erfordert, mußten die beiden Redakteure neben der eigentlichen Berufsarbeit erledigen. Josef Grinner war Kaplan in Baumkirchen, später Fritzens, und Reimmichl hatte die Kaplanei Gries am Brenner zu betreuen, die einer richtigen Bergpfarre gleichkam. ' Seine Schaffenskraft war aber so groß, daß er daneben noch Buch auf Buch aus der unerschöpflichen Fülle seiner volkstümlichen Erfahrungen und seiner dichterischen Bildkraft zu schreiben vermochte. Einmal veranstaltete er sogar ein regelrechtes „Bötl“-Schießen in Vinaders. Auch ich war dazu eingeladen und hatte meine Ehrenschüsse abzugeben, die mir als Schütze bei diesem vertrackten Schießstand mit seinem ungewöhnlichen „Terfainwinkel“ keine besondere Ehre einbrachten, weil ich gerade nur einmal dem Zentrum in die Nähe kam.

In Gries war es auch, daß ich es einmal mit List zuwege brachte, Reimmichl predigen zu hören. Er hielt mich für einen sehr begabten Redner und wollte deshalb nicht, daß ich ihm zuhöre. Damals litt er nämlich noch an einem Sprachfehler, der ihn plötzlich, auch während der Predigt, befallen konnte. Seine Gemeinde war daran gewöhnt. Er wollte aber nicht, daß ich unter den Zuhörern wäre. Ich brachte es jedoch nicht über mich, diesem Wunsch zu gehorchen, sondern schlich mich rechtzeitig in die Kirche und blieb im dunkelsten Winkel stehen. Selten habe ich in meine mLeben, trotz des Sprachfehlers, eine so ergreifende Predigt gehört wie damals. Da war von den Menschen die Rede, von ihrem Familienleben, ihrer Berufsarbeit, von Gletscher, Wald und Wiese, Hochwasser und Hagelschlag. Mit höchst einfachen rhetorischen Mitteln, die im Zuhörer das eigene persönliche Wissen von all diesen Dingen wachriefen, versend er es, die Menschen vor die Güte und Allmacht des Schöpfers zu führen und neben allem Schweren und Gefährlichen des Lebens im Hochgebirge auch all das Schöne und Frohe empfinden zu lassen. Ich junger Mensch ging, von dem Gehörten erfüllt und bewegt, zurück in den Widum und ließ mich gerne auszanken, denn Reimmichl hatte mich trotz seiner schlechten Augen in dem dunklen Winkel erkannt oder — die Häuserin hatte ihm gesteckt, daß „der Herr Redakteur“ doch zugehört hat.

Zu den sicherlich seltenen Erlebnissen eines Tageszeitungsjournalisten gehört meine Erfahrung mit Reimmichl als Autor unseres Zeitungsromans. Der Roman erschien in sehr kurzen Fortsetzungen und Reimmichl schrieb den Roman auch in Fortsetzungen. Damals mußten wir am Vormittag die Bahnpost erreichen. Um 5 Uhr früh nahm ich die telephonisch von Wien durchgegebenen neuesten Nachrichten des k. k. Telegraphen-Korrespondenzbüros und die eigenen Nachrichten unseres Wiener Dienstes stenographisch auf, bearbeitete sie, und um 6 Uhe mußten die Setzer das Manuskript haben. Man kann sich vorstellen, mit welcher Bangigkeit ich immer wartete, ob auch die Romanfortsetzung Reimmichls rechtzeitig eintraf. Sie kam immer pünktlich. Der erste Blick galt natürlich dem Schluß der früheren und dem Beginn der neuen Fortsetzung, ob sie wohl zueinander stimmten. Es stimmte immer. Wie Reimmichl das gemacht hat, habe ich mir nie erklären können.

Auch als ich nach meiner militärischen Dienstzeit, die ich als Einjährig-Freiwilliger der Artillerie zuerst in Krakau, dann in Brixen und schließlich in Bosnien verbrachte, um wieder in Brixen die Reserveoffiziersprüfung abzulegen, nach Wien zurückkehrte und bei der „Reichspost“ als Redakteur eintrat, blieb ich mit Reimmichl in Verbindung, und wann immer mich der Weg nach Tirol führte, besuchte ich ihn in Gries und später in Heiligkreuz bei Solbad Hall.

Vielleicht kommt die Stunde, in der ich auch davon berichten darf, was er und seine Mitkämpfer mir von den merkwürdigen Vorfällen in dem Bruderkampf erzählten, der damals bei den Landtagswahlen 1908 durch den überwältigenden Sieg der jungen christlichsozialen Bewegung über die frühere Katholisch-konservative Partei ein sichtbares Ende fand, wenngleich in manchen Familien und manchen Pfarrhöfen, ja sogar Klöstern die alte Spannung gelegentlich noch immer bemerkbar wurde.

Heute sei eine andere Frage beantwortet: Wie kam Reimmichl zu der Fülle von Stoff und Gestalten, die er in seinen zahlreichen Büchern dem Leser vorführt? Er liebte sein Heimatland, und er kannte und liebte das Volk dieses Landes, seine Bauern, Handwerker und Arbeiter, und er kannte durch seinen Bildungsgang auch die Intellektuellen, wie man heute sagt, an denen Tirol immer sehr reich war. Fragte man Reimmichl darnach, dann gab er nur eine kurzgebundene Antwort, etwa, man brauche ja nur die Augen und Ohren offen zu halten, dann erzähle einem das Leben mehr, als man in hundert Büchern beschreiben könne. Gelegentlich aber bekam ich doch heraus, daß er sich nicht auf den Zufall verließ, sondern planmäßig jede geeignete Gelegenheit benützte, seinen Besitz an Gestalten und denkwürdigen Ereignissen der Heimat zu vermehren. In so manchem Dorf gab es und gibt es wohl heute noch Frauen und Männer, die merkwürdige Erlebnisse ihrer Familie oder ihrer Gemeinde in treuem Gedächtnis aufbewahren und davon zu erzählen wissen. Reimmichl war ein dankbarer Zuhörer, der sein Gedächtnis dann durch Notizen unterstützte. Es kam wohl auch vor, daß er einen Handwerksburschen, der ihm ins Haus fiel, bewirtete, nicht nur aus Nächstenliebe, sondern auch, um ihn zum Reden zu bringen. Solche Wanderer wissen oft viel zu erzählen. Was lag schon daran, wenn sie zur Wahrheit noch anderes dazureimten, das heißt erfanden oder, wie man manchmal in der bäuerlichen Sprechweise hören kann, dazu„logen“. Reimmichl wußte das für ihn Brauchbare schon hefauszuschälen, und im übrigen veränderte sich das Gehörte in dem verzaubernden Medium seiner dichterischen Phantasie.

Gottes Güte, hat meinen Freund ein ungewöhnlich hohes Alter erreichen lassen, ohne daß mit dem Nachlassen der physischen Kräfte die schöpferische Gestaltungskraft sich verminderte. Wenn mir Reimmichl auch einmal klagte, daß es ihm halt dpch schon schwerfalle, an einem Buch, c|ü$ immerhin eine längere Zeit der geistigen Konzentration erfordere, zu arbeiten, so brachte er doch noch manches Neue heraus, und vor allem war ihm die Arbeit an seinem „Reimmichl-Kalender“ eine Herzenssache.

Als ich am 20. Oktober den auf den Tod erkrankten Freund das letzte Mal besuchte, lebte er auf, erzählte von den alten Zeiten unserer langen gemeinsamen Arbeit und wollte von mir wissen, was es denn in Oesterreich und in der Welt um Oesterreich herum Wichtiges und Neues gepe. Nach dem Abschied sah ich jmmer wieder zu seinem Hause zurijpk, denn ich hatte das leidyp}le Gefijhl, daß jeh den lieben Freund auf dieser Welt zum letztenmal gesehen hatte.

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