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Ernst Bloch: Der rote Ketzer

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Ernst Bloch verlässt die DDR.

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Ernst Bloch verlässt die DDR.

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Es hat internationales Aufsehen erregt, als in diesem späten September 1961 der sechsundsiebzigjährige Ernst Bloch in einem Brief an den Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin (Ost) bekundete, nicht mehr nach Leipzig, in die DDR zurückzukehren. Der berühmteste und bedeutendste Denker, der bisher noch sein Domizil „in einem Staat, der sich nachher (nach 1949) als Deutsche Demokratische Republik bezeichnete“ (wie er in seinem Absagebrief schreibt), hatte, ließ sich mit Frau und Sohn und den geretteten Manuskripten in Tübingen nieder.

Gibt es heute, in einer Welt, in der Atomteste und Atomdrohungen, Drohreden und Gewalthandlungen von Diktatoren, Starlets und Skandalhelden die „Öffentlichkeit“ beschäftigen, ein echtes Augenmerk für Entscheidungen dieser Art? Fehl geht das Frohlocken westlicher Gazetten, die in dieser Flucht des greisen Philosophen ein Debakel seiner Philosophie, den Zusammenbruch seiner „roten Hoffnung“ sehen. Ernst Bloch, der „rote Ketzer“, der Autor der Summe neumarxistischer Philosophie, des „Prinzip Hoffnung“, das noch gleichzeitig in einem ostzonalen und westdeutschen Verlag vor wenigen Jahren herauskam, ist nach Tübingen gegangen: und damit ein- und heimgekehrt in einem Quellgrund seines Denkens. Das „Reich Gottes“, wie es die Tübinger Stiftsschüler Hegel, Hölderlin und Schelling verstanden, der „Communismus der Geister“, wie ihn Hölderlin und die deutsche idealistische Bewegung um 1800 begriffen, hat den ältesten und stärksten Impuls für das Denken des Ernst Bloch abgegeben. Bloch wollte alles, was seit Menschengedenken in Richtung Zukunft, Richtung Reich Gottes gedacht wurde, zusammendenken zu einer großen Synthese. Von Moses über Platon, über Jesus (wie Bloch ihn sieht) und Augustin, über Thomas und einige Dutzend christlicher Denker des Abendlandes, wölbt Bloch die Brücken seines Denkens, dem geliebten Hegel, den Denkern des deutschen Idealismus, und weiter, dem jungen Marx und den Späteren zu: Das Reich, das kommende Reich des Menschen auf Erden, ist sein Ziel. Ein Reich, in dem der Mensch aus aller Selbstentfremdung heimgefunden hat, versöhnt mit sich selbst, in einer menschlich gewordenen Natur, in einer menschlich gewordenen Gesellschaft. Es ist „leicht“ und billig, auf dem Aschenhaufen verrotteter Hoffnungen, den unser Europa seit 200 Jahren bildet, das eschatologische Element m diesem Denken anzugreifen. Wer das tut, übersieht nur, unter anderem, daß sich Ernst Bloch, Prophet, Chiliast einer neuen Art, aus den uralten Feuern nährt, die bei Heraklit, bei den Propheten im Alten Bund und bei nicht wenigen Existenzen der christlichen Vergangenheit lodern. Dieser Mann bleibt im Westen so unbequem, wie er es im Osten sein mußte, wo er in der erstarrten, lebensfeindlich und fortschrittsfeindlich gewordenen Ulbrichtschen Apparatur lange schon vor der ungarischen Erhebung 1956 Feuer entzündete, die seinen besten Schülern als ersten zum Schicksal wurden: Feuer der Hoffnung, die heute von den Reaktionärei. aller Art, in Ost und West, zuschande gemacht werden.

Alles ist ja vorherbestimmt, vorherentschieden, fixiert in einer geschlossenen Gesellschaft; echte Entwicklung kann es in ihr nicht geben. Der Mensch muß sich eben in ihr einrichten, freiwillig oder durch sanften Zwang eingepaßt, durch den süßen Terror der Parties und Parteien, der Selbstgleichschaltung, wenn er „Erfolg“ haben will — oder er wird in der östlichen geschlossenen Gesellschaft eben mit Zwang und Gewalt eingepaßt.

Gott sei Dank — und wir alle haben Grund, dafür zu danken, daß es bei uns im Westen noch nicht so weit ist — bildet unsere westliche Welt noch nicht ganz eine perfekt geschlossene Gesellschaft dieser Art: deshalb kann sie für den roten Ketzer Ernst Bloch zwar nicht „Heimat“, wie er sie versteht werden, wohl aber statio, Station auf dem Wege des Wanderers Mensch. Des Menschen, der eine Fülle von Fragen weiß; Fragen, die weder er, noch seine Freunde und Gegner beantworten können. Fragen, die aber wohlgeeignet sind, den schlechten Schlaf in schlechter Gegenwart zu stören. Als ein Störungselement ist Bloch von redlichen Menschen im Westen begrüßt worden. Dieses unruhige Herz brennt, brennt in seinem Denken. Die Herausforderung an jene, die sich Christen, Humanisten, Demokraten nennen, ist groß. Vielleicht wird sie angenommen werden, wenn nun dieser jugendliche Greis seine Gastvorlesungen in Tübingen beginnt. Wenn nicht alle Zeichen täuschen, ist heute bereits eine gewisse Jugend in unserem Europa der falschen Sattheit, der falschen Antworten, der falschen Sicherheiten müde: Das Leben beginnt wieder für sie „interessant“, aufregend, in gutem Sinn gefahrenvoll zu werden. In Ernst Bloch, dem Denker eines größeren Lebens, mögen manche erwachende Menschen erste Anregung und Aufregung finden. Vielleicht führt ihn selbst sein Weg wieder einmal auch nach Österreich, nach Wien, das er gut kennt.

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