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EROS UND SEXUS IM FILM

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DIE ATOMBOMBE VON HIROSHIMA hatte einen Namen, einen first name zumindest, der mit weißem Lack auf den dunklen Mantel des Bombenkörpers gemalt war. Der Name war Gilda. „Gilda“ war der Titel eines überaus beliebten Films, und seine Darstellerin, Rita Hay-worth, stand damals auf dem Gipfel ihres seinerzeit ausschließlich glamourösen Starruhmes. Ihre Bilder klebten auf den Spinden der Kasernen, auf den Panzern der Invasionsarmeen und, wie gesagt, ihr Rollenname, sprühend vor Sinneslust und Lebensfreude, schmückte die Bombe von Hiroshima, solcherart noch den hunderttausenden Toten und Verseuchten sozusagen Licht und Freude bringend ... Es war, im fürchterlichsten Doppelsinn des Wortes, die erste „Sexbombe“, und ungefähr von da an datiert auch so recht sichtbar jene auffallende Zeiterscheinung der Erotisierung unserer ganzen Existenz durch den Film und in holdem Wechselspiel des Films durch ganz bestimmte Züge der heutigen Sozietät, die der einzelne und die Gesamtheit als vibrierende, quälende An-gespanntheit empfinden.

WIR LEBEN IN DIESEM JAHRHUNDERT ZWISCHEN KRIEGEN. Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß der Krieg nicht der Vater aller Dinge, sondern nur der bösen ist, dann wäre es das, daß er durch die langandauernde Trennung der Geschlechter die Natur vergewaltigt. Weithin werden im Krieg die gleichmäßig sanfte Glut des geordneten nahen Zusammenseins und die Integrität des ehelichen Kontaktes wie unerwünschte Brände unter Decken erstickt. Aber — sie ersticken nicht, sondern unterder Decke schwelen nunmehr ger-fährlichere Flammen. Da ist das reduzierte, verbogene Geschlechtsleben der Frontsoldaten, das exzessive Toben der Besatzungstruppen, die treulose Gier der Daheimgebliebenen (Männer und Frauen). Nicht viel anders ist es dann nach Schluß des Krieges. Im Rahmen des allgemeinen hedonistischen Auftriebes in Nachkriegszeiten überfällt die Menschen auch ein ungeheurer physischer und psychischer Nachholbedarf. Der Ausfall von Männern, besonders jungen Leuten, zieht zudem eine Art Torschlußpanik der Frauen nach sich. Sie drückt dem Geschlechtsleben der Zeit eine auffällige Aggressivität der Frau auf, die das erotische Spannungsfeld weiter auflädt. Mit der femininen Aggressivität! korrespondiert übrigens genau (nicht: läuft ihr zuwider!) ein in der Arrogierung männlicher Sozialfunktionen wurzelnder andro-gyner Frauentyp, der sich unter anderem äußerlich sichtbar in der Hosenmode ausdrückt.

DIESEN TYPISCHEN NACHKRIEGSTENDENZEN gesellen sich Züge, die durch die soziale Entwicklung unserer Zeit bedingt sind. In unseren modernen Arbeits- und Freizeitformen zeichnet sich ein sonderbarer Gegenlauf ab: erotische Abstumpfung und erotischer Anreiz. Auf die sinnetötenden und -erschlaffenden Folgen der modernen Arbeitsrationalisierung (vom Fließband bis zur Automation) haben schon Chaplin und Rene Clair in Filmgrotesken, aber auch schon Betriebsärzte in seriösen Untersuchungen aufmerksam gemacht. Irgendwie gehört hierher auch das betrübliche Phänomen der Pendel- und Wanderarbeiter und das Drama der Flüchtlinge aller Art, der Auswanderer und modernen Völkerwanderungen.

Dagegen begünstigt die immer reicher anfallende Freizeit, vor allem das nahezu schon dreitägige Wochenende, ein erotisches Ausleben, vor allem der Jugend — man könnte das Phänomen die motorisierte Erotik nennen. Unzweifelhaft hat auch die immer noch zunehmende Berufstätigkeit der Frau das Klima der Büros und Werkhallen erotisiert: die attraktive Sekretärin beispielsweise ist längst eine stehende pikante Witzblattfigur.

Einige gehen noch weiter und wollen in bestimmten Erscheinungen, im Zusammenhang mit Nachkriegszügen und gesellschaftlichen Wandlungen, ein regelrechtes Schwinden männlicher Autorität, ein Abbröckeln des Patriarchates erblicken.

Die weithin, sagen wir es ehrlich: auch christlich unbewältigte Atomsituation, Ost-West-Situation, Weltraumsituation, die Angst vor neuen Kriegen und Untergängen, kurz: die weltanschauliche Sackgassensituation (Wilfried Daim) unserer Tage fördern ferner nicht nur einen epidemischen Todestrieb, sondern auch — nur in scheinbarem Widerspruch dazu — einen hektisch-hedonistischen, erotischen, teilweise stark zur Pervertierung neigenden Auftrieb. Auch hier also: erotischer Atomstaub, den wir täglich, stündlich einatmen, unbewußt zwar, aber doch in allen Poren zu spüren.

EINER DER AUFFÄLLIGSTEN CHARAKTERZÜGE UNSERER ZEIT ist schließlich neben der Technisierung die Kommerzialisierung. Hier interessiert vor allem das unzüchtige Bündnis der modernen Absatzwerbung mit den triebhaften menschlichen Affekten. Ein Blick auf eine Plakatwand setzt uns „ins Bild“. Daß man den frivolsten, obgleich unbequemsten Badeanzug unserer Tage, den Bikini, nach dem H-Bomben-Versuch 1946 im Atoll und ein Herrenunterhemd hierzulande „Little Rock“ benannt hat, bildet ein würdiges Gegenstück zur Sexbombe „Gilda“.

Auf diese „Daueraktualisierung sexueller Impulse durch die Gesellschaft ohne eigentlichen Triebdruck vom Individuum her“ hat Helmut Schelsky in seiner „Soziologie der Sexualität“ deutlich hingewiesen.

ALLE DIESE ZEITTENDENZEN wirken unmittelbar und mittelbar in die Filmsituation hinein, vermischen sich dort mit spezifischen Filmimpulsen und gelangen als Filmeffekte und Gesangstimmen. Der Farbfilm mußte kommen — es gibt erotische Farben, und zwar nicht nur Schwarz und Weiß (das nützte schon der Stummfilm weidlich), sondern auch besonders Rot. Die Breitwand- und Pseudo-Drittdimen-sionstechnik des Cinemascope, Cinerama, Cine-miracle mußte kommen — der menschliche Körper, besonders des einen Geschlechts, ist eben nicht flach, zweidimensional (man könnte meinen, die dritte Dimension des Films sei eigens für die Lollobrigida erfunden worden).

Ferner: Der Filmdarsteller ist im Grunde nicht das, was die antike, die shakespearische ES WÄRE NUN EIN WUNDER, wenn wir nicht auch hier dem kommerziellen Untergrund begegneten.Gert Wolffram („Der Sex-Appeal“, München 1959) glaubt den sicheren Beweis in der Hand zu haben, daß die erotischen Kulminationen der Filmgeschichte, zu denen unzweifelhaft auch unsere Zeit zählt, irgendwie immer mit wirtschaftlichen Krisenzeiten des Films zusammenfallen: mit der ersten Ernüchterung der Jahre 1908/09, ferner mit dem Wallstreeterdbeben von 1929 und schließlich und ganz besonders mit der Atemnot des gegenwärtigen Films, für die das Fernsehen, die Motorisierung und überhaupt eine Revolution (und Emanzipation!) des gesamten Freizeitgestaltens verantwortlich gemacht werden.Daran ist bestimmt etwas Wahres. Es hieße ober doch die Nüchternheit des Lebens, auch des technischen und kommerzialisierten von heute, übertreiben, wenn wir die zyklischen erotischen Auftriebe des Films nirgend anderswo als in Gegen- und Entlastungsstößen der jeweils bedrängten Industrie erblicken würden. Sie spielen mit, ganz gewiß. Aber die letzten Ursachen, die letzten Dinge, liegen wie immer tiefer. (Ein zweiter Aufsatz soll sie deutlicher machen.): not potenziert in stetem Kreislauf wieder in die Gesellschaft zurück, von da wieder zum Film und so weiter.Spezifische Filmimpulse? Ja. Da ist einmal die Sinneverhaftung, die Wirklichkeitsnähe des Films — nicht stilistisch gemeint (Naturalismus, Neoverismo), sondern ontologisch. Sinnlich ist der Film in beiden Sinnen des Wortes — die ersten Filme waren abgebildete Alltagsvorgänge, die vorläufig letzten zeigen uns die sinnlichsten Frauen und ihre sinnlichsten Bestandteile. Diesem dokumentarischen Grundzug des Films zufolge mußte zum Stummfilm der Tonfilm kommen — es gibt sinnliche Gesprächsund die moderne Bühne Schau-Spieler nennen. Er ist vielmehr ein Sichselbstdarsteller, eine eine Wie-du-mich-wünscht-Darstellerin, wobei das „du“ nicht so sehr die Rolle (wie auf der Bühne), sondern vielmehr das Publikum, die Stargefolgschaft ist. Darum kennt der Film auch nicht so sehr die verwandelnde, verzaubernde Maske, als vielmehr das attraktive, bestimmte Potenzen des Darstellers (wirkliche Züge oder auch nur Möglichkeiten) unterstreichende Make-up. So wie von der Miß Meidling kein Reifezeugnis des Schönbrunn-Seminars verlangt wird, wird auch vom Filmstar in erster Linie das geheimnisvolle persönliche Fluidum, das gewisse Etwas, verlangt; man sagt heute in bestimmtem Zusammenhang: Sex-Appeal.

ES KAM NOCH EIN DRITTES HINZU, das Bedeutendste von allem. Man möchte es gerne trotz allen Vorbehalten eine der wenigen schöpferischen Taten des Films nennen, an sich so schöpferisch und dauernd wie das groteske Märchen Chaplins oder das hollywoodsche Happy-Ending — wenn, ja wenn es derzeit nicht fast ausschließlich dem Mißbrauch dienen würde: gemeint ist die Ausschnittechnik des Films.

Wenn in der sogenannten Sittengeschichte der Menschheit schon bis zur Erfindung des Films das Halbenthüllte im erotischen Rang weit vor der völligen Nacktheit rangierte, so ist der Film darin noch einen Siebenmeilenschritt weitergegangen und hat mit Hilfe der genannten Ausschnittechnik die erotische Funktion so gut wie eines jeden Körperteiles aufgespürt: weit über die wissenschaftlichen Erkenntnisse hinaus, die in der Medizin nur von primären bis tertiären Geschlechtsorganen wissen.

Es.gibt Stars, von deren blonder Mähne,; und solche, von deren schwarzer Mähne die Funken sprühen. Wir haben eine italienische Filmepisode gesehen, bei der nur männliche und weibliche Beine richtige pikante Kurzgeschichten erzählten. Lippen, Wimpern, Nasenflügel, Augen, Knie, Kleider, Schuhe und andere Accessoires können erotisch wirken. Die moderne Kurvenkamera tastet den Körper ungeniert vorne und hinten ab — die bevorzugten Lokalisierungen sind bekannt. Sie hat aber auch die Erotik der Bewegung erkannt, des Tanzes vor allem in allen seinen Formen und Rhythmen. Das hüftenschwingende Schreiten auf hohen Absätzen beispielsweise grassiert von Mae West bis Brigitte Bardot; es ist eine stimulierende Mischung von Mannequin- und Dirnenpose.

Dem Ausschnitt assistieren schließlich Licht und Farbe, obszöne Attribute und Symbole. Das Instrumentarium ist vollendet — die berühmte Beinpose der Dietrich im „Blauen Engel“ steht als Beispiel für eine Legion.

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