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Es fällt das Wort „Südtirol“...

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Es fällt das Wort „Südtirol“ — und weckt zunächst die Vorstellung von letzten Meldungen der Tagespresse über den derzeitigen Stand der ,!Ffage“; aber es weckt noch viel mehr. Das Interesse, das man in Oesterreich nimmt, ist nämlich anderer Art als das mehr oder minder „akademische" Interesse, das der politisch Gebildete zwischenstaatlichen Streitfällen schenkt. Das Wort „Südtirol" weckt Empfindungen.

Es fällt das Wort „Südtirol“ — und Bilder steigen auf: Der schimmernde Frühling im Ueberetsch, der farbenstrotzende Herbst auf der Mendel, Sonnenuntergänge auf der Seiser Alm und der Glyzinienrausch an den Bozener Promenadewegen ... Es könnte sein, daß die Bilder untergehen in einem schmerzlichen Gefühl von Wehmut. Je älter Erinnerungen und Gedenkende, um so trauriger die Empfindungen. Das schöne Südtirol! Ja, das waren noch Zeiten, als Tirol bis an die Gestade des Gardasees reichte, als das Kaiserpaar in Meran zur Kur weilte .. . Der Rest ist Traurigkeit. Eine Wiederbegegnung mit dem verlorenen Paradies? Nur das nicht, nur nicht hinfahren, nur nicht sehen, was sie daraus gemacht haben. Erinnerungen soll man sich unzerstört erhalten — und zu retten ist da nichts mehr. Im Jahre 1919 hat man ohne Betäubung amputiert. Im Jahre 1946 war die Technik in der Politik europäisch etwas fortgeschritten. Man wollte den Schmerz lindern und Unterzeichnete einen Vertrag. Aber verloren ist verloren ...

Alle Achtung vor geheiligten Erinnerungen. Doch wer nur wehmütig fühlt, fühlt für sich und nicht für Südtirol. Sentimentalität verbindet sich gern mit Resignation, und was übrigbliebe, wäre — Lethargie.

Es fällt das Wort „Südtirol“ — und Bilder steigen auf: der Vogelweiderhof bei Laien, die Trostburg Oswalds von Wolkenstein, das „Heldenbuch an der Etsch“ mit der Aufzeichnung des Gudrun-Liedes, der Rosengarten, wo Dietrich von Bern den Zwergenkönig in die Knie zwang... Es könnte sein, daß die Bilder „betont“ nationale Empfindungen und Erwägungen wecken: Ja, sie haben sich wacker gehalten, dą unteą, £ur Zeit 4e; finsterstet faschistischen Unterdrückung haben sie mit dem Tiroler Gewand und -dem deutschen Lied demonstriert, und kein Terror konnte ihre Gesinnung brechen. Die italienischen Kaufleute in Bozen wurden einfach boykottiert und mit dem heiligen Eifer des Zorns haben sie ihre Kinder in den Katakombenschulen die Muttersprache gelehrt. Von dem Pakt der Diktatoren in die Enge getrieben, haben sie sich überwiegend zum ..Gehen“ entschlossen, nur, um nicht „welsch“ zu werden. Es ist dann alles anders gekommen. Eine neue Generation wächst heran, die wenig mehr weiß vom Geist nationalen Widerstandes. — Der Pariser Vertrag? Auch ein Stück europäisches — Papier . ..

Betont nationale Gefühle enden in betont nationaler Bitterkeit Wer Südtirol nur mit solchen Empfindungen gegenübersteht, wird es unweigerlich einbeziehen in den Untergang seines

Weltbildes. Und die Bitterkeit, auch sie könnte nur in der Lethargie münden.

Es fällt das Wort „Südtirol" — und Bilder steigen auf: Bozen zur Messezeit, ein friedlicher Trubel, in dem sich Tirolisches und Italienisches farbenfroh verbinden. Alte Volkstrachten neben den rasanten Linien der italienischen Mode. Behäbiges Bürgertum, konservativ, gepflegt, ■ stolzer Wohlstand. Liebenswürdiges Deutschgestammel des italienischen Tankstellen- warts auf der Strecke . . . Und es könnte sein, daß bei diesen Bildern auch andere Gedanken auf steigen: Ist der ganze Konflikt nicht etwa ein mehr oder minder künstlich vom Zaun gebrochenes Geplänkel nimmermüder Fanatiker hüben und drüben? Handelt es sich in Wirklichkeit nicht um ein wirtschaftlich blühendes Land? Wenn man an die Heimatvertriebenen denkt — und an die Geschehnisse jenseits des Eisernen Vorhanges! Man lebt hier eben doch doppelsprachig. Und die Doppelsprachigkeit, ist sie nicht eigentlich ein Stück europäischer Integration? Der Pariser Vertrag, wenn auch nicht in allen, wurde doch in vielen Punkten erfüllt. Muß man nicht angesichts der größeren Geschehnisse in der Welt die Großzügigkeit aufbringen, die „Geringfügigkeit“ des Problems zu sehen? Man darf ja schließlich nicht vergessen, daß wir ein neutrales Land und keine Großmacht sind. Mahnt nicht auch die Handelsbilanz zur Vorsicht? . Solche Oberflächlichkeit und Vorsicht, kombiniert mit der Selbstbeschwichtigung dessen, der nicht gestört sein will, wären eine Ausrede für1 eine besonders gefährliche Form von — Lethargie.

Es fällt das Wort „Südtirol" — und Bilder steigen auf: „Mander, es ischt Zeit", der Bauernaufstand von 1809, Steinlawinen in den Talengen, das letzte Aufgebot der Jungen und der Alten ... Es könnte sein, daß, von den Bildern des Widerstandes gegen Napoleon her inspiriert, das Phänomen Zypern im Bewußtsein auftaucht. Danach gäbe es nur eine Methode, die einer kämpferischen Irredenta, nur einen Weg, den durch Dynamit aufgebrochenen. „Da müßte etwas geschehen, damit etwas geschieht." Die UNO-Truppen würden ja kommen, wenn ein Zustand geschaffen würde, der ihren Einsatz erforderte. Der Pariser Vertrag? Er hätte nie geschlossen werden dürfen, er sei wertlos und es wäre geradezu schlecht, wenn er eingehalten würde. Es gäbe nur einen Weg . . .

Das Gegenteil von Lethargie — aber ein unheilvolles Gegenteil I Der Kampf um das Recht kann nie und nimmer mit den Mitteln des Unrechts geführt werden. Das Südtiroler Volk ist dem Terror ebenso abhold wie der Unfreiheit.

Es fällt das Wort „Südtirol“ — und Bilder steigen auf: steile Berglehnen unter dem Kranz der Dolomiten und die Fülle der Siedlungen bis knapp unter dem Fels; und überall Kirchturmspitzen — Fleiß und Andacht. Bauernland — Abendland. Gewölbe und Erker, Fresken und Bildstöcke. Lebensfreude und Lebensernst — Kampf, Spiel und Gebet. Es mag auch das Antlitz eines Mannes auftauchen, auf den das Volk hört, weil es in ihm die echteste Verkörperung seines Wesens sah: Treue ohne Engstirnigkeit, das Anliegen der Heimat als Anliegen des Glaubens; Michael Gamper, der Schmiedsohn im Priesterrock, war Kämpfer aus Sorge um die eelen, Seelsorger im Kampf um das Recht. — Und es kann sein, es soll sein und es muß sein, daß die Bilder nicht nur Empfindungen wecken, sondern die Haltung stärken und erneuern. Die Haltung im Sinne von Aktivität.

Es geht hier nicht um ein Reststück von Nationalismus — immer noch haftet dieses Mißverständnis an der Frage — es geht um das Recht auf die Heimat. Selbstbestimmung in der Mindestform der Autonomie ist nicht ein nationalistischer Kampfschlager, sondern ein europäisches Postulat. Südtirol ist kein „Streitfall“, an dem sich zwei Imperialismen messen, sondern ein Test, eine Bewährungsprobe europäischer Gesinnung. Dort, wo der Satz ..cuius regio eius natio“ praktisch Geltung hat, kann keine europäische Solidarität gedeihen. Sie setzt die Achtung voraus, die Achtung vor der fremden Eigenart und vor dem Leben nicht nur einzelner Bürger, sondern vor dem der anderen Gemeinschaft, der Volksgruppe. Dieser Gedanke legt eine Erinnerung nahe, die Erinnerung an die österreichische Verfassung vom Jahre 1867 mit dem Grundsatz: „Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und seiner Sprache.“

Im Kleinkampf um Zugeständnisse: echte Autonomie, Doppelsprachigkeit auch in den Aemtern, ein richtiges Verhältnis in der Zusammensetzung der Beamtenschaft usw., geht es nicht einfach nur um das Ringen nach politischen Positionen, es geht um die Ueber-

windung einer „kolonialen Situation“. Föderalistische und demokratische Ideen lehnen sich gegen das Gedankengut einer faschistisch-zentralistischen Tradition auf. In diesem Sinne ist die Forderung von Staatssekretär Gschnitzer zu verstehen, der am 25. Jänner 1957 in Innsbruck sagte: „Die Volksgruppe in Südtirol und das Südtiroler Land müssen unter Italien so leben und gedeihen können, wie sie zweifellos leben und gedeihen würden, wenn sie bei Oesterreich verblieben wären.“

In dieser Forderung liegt die Forderung nach Aktivität, nach beharrlicher Bemühung der österreichischen Regierung; doch nicht nur der Regierung. Jeder einzelne ist aufgerufen, nicht nur mitzufühlen, sondern auch mitzudenken und mitzuhandeln. Jeder einzelne kann die Begegnung mit Südtirol suchen und dabei das Vaterland repräsentieren, von dem das Land seit vierzig Jahren getrennt ist. Jeder einzelne kann etwas zur Förderung des kulturellen Eigenlebens Südtirols beitragen und jeder einzelne kann Hoffnung und Vertrauen ausstrahlen, wo Resignation und Verbitterung lähmend wirken würden.

Es fällt das Wort "Südtirol" — und es steigt ein Gefühl auf, das zugleich Haltung ist: die Treue.

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