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Es war einmal...

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„ES WAR MÄRCHENHAFT“, sagt man und jeder versteht: Es ist besonders schön gewesen. Der geheimnisumwobene Märchenwald in seiner Stille, mit seinen blühenden Wiesen, seinen dunklen Weihern, seinem alten verträumten Holzhäuschen, in denen hilfreiche Männchen hausen, das arme Mädchen, das als verstoßene Waise auszieht und als goldene Jungfrau heimkehrt, der verlachte Held, der das Königreich vor den Feinden rettet und schließlich die Märchenhochzeit: Sind sie nicht schöne Erinnerungen an ein Kindheitsparadies? Man teilte in der Phantasie Mühen, Gefahren und Leiden des Helden und zuletzt brachte sein Sieg das große Aufatmen, die Erlösung, die Freude. Eine helle Welt hatte die dunkle besiegt. Der Held ist als ewig junger, unverletzter Sieger aus allen Prüfungen hervorgegangen. Ein Gesicht des Märchens. Gibt es noch andere?

Nicht alle urteilen über die Volksmärchen positiv. Was sagen die Märchengegner?

• Das Märchen ist primitives Machwerk.

• Es erweckt Angst.

• Es fördert den Aberglauben.

• Es erzieht zu Grausamkeit und Roheit.

• Es ist blutrünstig.

Die Märchenfreunde sind anderer Meinung:

• Das Märchen ist ein hochentwickeltes Kunstwerk.

•' Es vermittelt eine idealistische Weltanschauung.

• Es hat heilende und beruhigende Wirkung.

• Es zeigt die Läuterung des Menschen durch Schmerz und Leiden.

• Es erstrebt die Erlösung des Guten aus der Gewalt des Bösen.

LEHRER VERTRETEN den Standpunkt, daß es gute und schlechte Märchen gäbe. Gute seien sehr beliebt und hätten eine positive Wirkung. Vor allem würde die Phantasie angeregt und die Helden wären sittliche Vorbilder.

Kindergärtnerinnen teilten diese Meinung. „Nur ab und zu weint einmal ein Kind bei einem Märchen. Im allgemeinen jedoch lieben die Kinder Märchen sehr und sind nicht ängstlich.“

Märöhenerzählerinnen an Kinderkrankenhäusern beobachteten einen heilenden und beruhigenden Einfluß der Märchen. Mit ihrer Hilfe bereiteten sie schwerkranke Kinder auf Operationen vor. So konnten nach dem Tod zweier Kinder die übrigen durch ein Märchen von Ihrem Schock befreit werden. Ein Märchen, in dem der Held den Tod erlitt und wieder zum Leben erweckt wurde. Wäre doch das Erlebte mit den Kindern unmittelbar zu besprechen, als Profanierung erschienen. Das mythische Bild wurde von ihnen begriffen, ohne aufdringlich zu wirken. — Welche andere Art von Erzählung könnte hier noch ähnlich hilf reich sein?

Alle kranken Kinder lieben Märchen, von den kleinsten bis zu den vierzehnjährigen Das Märchen stärkt den Mut, seine Helden leiden nicht vergeblich So streben die Meinungen über die Märchen extrem auseinander. Wer hat recht?

WELCHE MÄRCHEN magst du nicht? fragte ich eine zwölfjährige Schülerin, die mir als eifrige Mär--chenleserin bekannt war. Sie nannte das Märchen „Der Wandergesell“ von Beckstein. Der Held dieser Erzählung, ein junger Fleischergeselle, kehrt abends mit seinen drei Hunden in eine , einsame Waldschenke ein, deren Wirt ein Menschenmetzger ist. Er bestellt etwas au essen und bekommt Fleisch in .einer Brühe, die ihn widerlich dünkt. Zu allem Überfluß findet er den kleinen Finger eines Menschen darin. Angeekelt setzt er sie seinen Hunden vor. Nach der Mahlzeit wird er vom Wirt durch drei Kammern geführt: Die erste enthält Waffen und Rüstungen von Erschlagenen, ferner „Ketten, Stricke, Handschellen und solcher Dinge mehr, womit man die Leute wehrlos macht“. In der nächsten Kammer liegt geraubtes Gold und Edelsteine. Die dritte Kammer ist die „Schlachtkammer“:

„Aber da sah es ganz abscheulich und schauderhaft aus. Die Wände waren mit Blut bespritzt, und mitten im Zimmer stand ein Block, auf dem ein scharfes Metzgerbeil lag. Man sah zerstückelte Gliedmaßen von Menschen herumliegen, und an der Wand hingen aufgeblasene Gedärme um Wurst einzufüllen ... Der Wirt aber sprach mit harter Stimme: .Mein Bursche, hier ist die Werkstätte. Hier wirst du dein Meisterstück machen und bei mir bleiben. Wenn nicht, wirst du hier selbst massakriert, daß du es weißt. Entweder du zerhackst hier und schneidest Grieben und wiegst, oder du wirst selber zerhackt, zerschnitten und zu Wurst gewiegt

Märchengegner greifen solche Erzählungen an — aber auch Märchen-freunde werden sie kaum verteidigen wollen. Sie haben dem Volksmärchen den Vorwurf eingetragen, daß es Freude am Grauenhaften habe, Menschenfresserei und -Schlächterei liebe, daß es Furcht erwecke. Solche Einwände aber zu verallgemeinern ist falsch.

• IM GEGENSATZ DAZU gibt es Märchen, in denen weder Greuel noch Roheiten zu finden sind, dafür aber jene Merkmale, die die Mär-chenfreuride seit jeher begeistert haben.

Dichterische Anmut zeigt das slowakische Märchen „Radoioid“: Ein Vater hat in Lebensgefahr seine Tochter einem Bären versprochen. Nach sieben Wochen will sie der Bär holen. Alle warten auf ihn:

„Plötzlich erdröhnte die Erde unter dem Stampfen von Pferdehufen, und aus dem Wald sah man eine lange Reihe goldener Wagen hervorkommen. Sie fuhren geradewegs auf das Schloß zu und im Hof blieben sie stehen. Sechs feurige Rosse waren vor den schönsten Wagen gespannt, und aus dem sprang ein junger Fürst, schön wie eine Rose und glänzend von Gold und Edelsteinen, wie eine Wiese von Blumen vor der Mahd... Er ging auf den alten Gutsherrn zu und bat ihn, ihm seine älteste Tochter zur Frau zu geben.

Von Herzen gern würde ich dies tun', erwiderte der Vater, ,aber ich

habe sie einem Bären versprochen, den wir eben erwarten.'

,Der Bär soll eine Bärin freien; die schöne Jungfrau gib einem schönen jungen Mann, der zu ihr paßt', sagte der junge Fürst.

Der alte Gutsherr ließ sich gern überreden und der Tochter gefiel der Freier gar sehr.“ Munter wie ein Bergquell sprudelt der Dialog aus dem Märchen „Goldene Äpfel“:

„Der Knabe erblickte nun inmitten einer Wiese eine Sennhütte und schritt auf sie zu. Er trat durch die offene Tür, verneigte sich und sagte: ,Gott geb' euch Glück!' — ,Gott geb' es auch dir', antwortete der Oberschäfer. ,Was führt dich

her?' — ,Ich bin gekommen, zu fragen, ob ihr mich in euren Dienst nehmen wollt?'

.Vielleicht könntest du für meine Hirten kochen?'

,Wenn es Gott gefällt, das kann ich. Und ich könnte auch noch die Schafe hüten!'

,Gut, dann bist du aufgenommen . . .!'.“

DIE MÄRCHENHELDEN HABEN — wie andere Heldenfiguren auch, eine merkwürdige Eigenschaft: Sie regen das Mitgefühl an. Das Kind lebt mit dem Helden mit, teilt seine Mühen, Leiden und Nöte und atmet befreit auf, wenn sich alles zum besten wendet.

Eine statistisch-psychologische Untersuchung über die Grimmschen Märchen wertet nur Gefühle wie „froh“, „glücklich“ und „gerne hören“ positiv.. Das Mitleid kommt zu kurz. Der sittliche Charakter dies Helden kann außerdem in nur heiteren Erzählungen oder in solchen, in denen dem Helden alles mühelos gelingt, nicht entwickelt werden. Gerade darin aber liegt die positive Wirkung guter Märchen.

Wenn die Sympathie des Kindes auf Heldenfiguren gelenkt wird, die sozial erstrebenswerte Eigenschaften zeigen, wie Mitleid, Hilfsbereitschaft, Geduld, Fleiß, Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, dann erfährt es eine Förderung dieser Eigenschaften. Es wird angeregt, sich dem Helden anzugleichen, sein Wille und seine Gefühle werden positiv beeinflußt. Wenn es auch nicht immer und nur zum Teil gelingen wird: Das Kind will sein, wie der Held. Das gute Märchen ist ein unersetzlicher Miterzieher.

Auch das schlechte Märchen ist Miterzieher. Die Belohnung eines negativen Helden mit verbrecherischen Eigenschaften, oder eines faulen und bequemen Helden, eines rücksichtslosen Strebers, täuscht das Kind. Sie suggerieren ihm, daß. es gut sei, solche Eigenschaften zu haben. „Wenn man alle, die sich einem in den Weg stellen, betrügt, ausnützt, rücksichtslos prügelt und erschlägt, so wird man König.“ So etwa „lehrt“ der Held des Grimmschen Märchens „Von der Serviette, dem Tornister, dem Kanonenhütlein und dem Horn“.

KLEINE SCHÖNHEITSFEHLER von Märchen können leicht behoben werden. So würde es dem Märchen vom „Aschenputtel“ besser anstehen,wenn es die Tauiben am Schluß der Erzählung unterlassen würden, den zwei Gegenspielerinnen die Augen auszuhacken. Außerdem würde „Schneewittchen“ nur gewinnen, wenn die böse Stiefmutter sich damit begnügte, den Tod Schneewittchens zu fordern, nicht aber dessen Herz und Lunge als eßbares Wahrzeichen der Befehlsausführung. Ob es jemand greulich findet, daß die böse Stiefmutter in glühenden Pantoffeln tanzen muß? Er könnte auch den Schluß ändern. Ich entsinne mich nicht, als Kind damit greuliche Vorstellungen verbunden zu haben.

Vielleicht, weil die Sache so unrealistisch war.

Problematischer liegt die Sache bei „Hansel und Gretel“. Die detaillierte Schilderung der perversen Gelüste der Hexe ist weder schön, noch ist sie notwendig, um zu zeigen, daß sie böse ist. „Die Lust am Grauenhaften“ die dem Märchen von seinen Gegnern vorgeworfen wird, ist hier spürbar. Man könnte eine Variante von Hansel und Gretel zu Wort kommen lassen: Die Kinder fliehen, von der Hexe verfolgt. Schließlich klettern sie in ihrer Not auf einen Baum, der an einem Tümpel steht. Die Hexe erblickt das Spiegelbild der Kinder im Wasser, stürzt sich wutentbrannt darauf und ertrinkt.

UNGLEICHE MÄRCHEN — UNGLEICHE WIRKUNG. Eine gewissenhafte Prüfung der Frage, ob Märchen in der Erziehung verwendet werden sollen, läßt keine Pauschalurteile zu. Pauschal beurteilt tritt uns das Märchen mit einem Janusgesicht entgegen und spottet aller unserer Bemühungen, hinter sein Geheimnis zu kommen.

Lehnen wir das Märchen einfach ab, so vermeiden wir zwar schlecht Einflüsse, gleicherweise aber auch gute.

Nehmen wir uns lieber die Mühe und beurteilen wir von Fall zu Fall, was gut oder schlecht ist, dann erhalten wir ein zu Unrecht ver-fehmtes Kinderparadies in unserer an seelischem Reichtum so arm gewordenen Zeit.

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