EU-Freiheitsraum: offen für alle

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Die Diskussion über die geistigen und religiösen Wurzeln Europas beim GLOBArt KOMPASS-Symposium fand in der Frage nach dem Gottesbezug im EU-Verfassungsvertrag ihre Zuspitzung.

Franz Kössler: Warum sollte eigentlich ein Bezug auf den christlichen Gott in der EU-Verfassung stehen - was sollte das für einen Sinn machen?

Michael Weninger: Ich spreche als Vertreter einer säkularen Einrichtung, der Europäischen Kommission, und da sage ich vorweg: Wir müssen schon genau hinschauen, worüber wir sprechen. Wir sprechen zunächst über die Präambel des Verfassungsvertrags. Und die Diskussion dabei wird geführt über die Invocatio Dei, die Anrufung Gottes, und nicht über die Nominatio Dei, die bloße Nennung Gottes. Das ist ein großer Unterschied: Ob ich in der Präambel Gott anrufe oder ihn einfach nur nenne.

Joachim Angerer: Ich hadere mit mir, um ehrlich zu sein, ob dieser Gottesbezug wirklich in der Präambel einer EU-Verfassung hätte stehen sollen. Wenn wir nicht Christen sind, wenn wir nicht Europa christlich prägen, dann sind Vorschriften oder auch Deklarationen und Präambeln bloß Papier. Was unsere Geschichte anbelangt, haben wir so christliche Wurzeln, die so unverwechselbar sind und die unsere Identität absolut prägen, denken wir nur an unsere Musik, die in den Psalmengesängen ihren Ursprung hat und in den Klöstern weitergetragen und weiterentwickelt wird; und daraus entsteht die Mehrstimmigkeit - all das, was uns ausmacht. Die Überlieferung der klassischen Literatur ist den Mönchen zu verdanken. In den Klöstern haben sie die alten Codices abgeschrieben. Und das ist christlich, und diese christlichen Wurzeln nicht anzuerkennen, ist reine Unkenntnis.

Weninger: Für den Verfassungsvertrag ist die Nennung des christlichen Erbes Europas in der Präambel völlig irrelevant. Wesentlich ist, was im Verfassungsvertrag drinnen steht; und da kann ich jene Prälaten trösten, die sich für eine Invocatio Dei aussprechen: Der Verfassungsvertrag ist ein zutiefst von christlichen Werten getragenes Vertragswerk. Darauf kommt es an, das ist entscheidend und nicht, ob wir eine Invocatio oder Nominatio in der Präambel stehen haben.

Kössler: Ist das nicht arrogant, einen ganzen Kontinent mit seinen vielen Traditionen auf das christliche Erbe zu verkürzen?

Weninger: Das ist gar nicht arrogant, denn wenn wir in der Philosophie vom Naturrecht sprechen, dann ist natürlich die Würde des Menschen jedem Menschen gegeben, gleich ob er Christ, Muslim, Buddhist oder Hindu oder Nihilist oder Agnostiker oder Atheist oder, oder … ist.

Christine von Kohl: Zu der Diskussion um die angeblichen christlichen Werte Europas möchte ich folgendes Erlebnis erzählen: Ich war mit einer Delegation der Helsinki-Föderation für Menschenrechte einmal bei einer albanischen Bauersfamilie im Kosovo, die ganz nach der Tradition des Kanon - dem man nun wirklich keine christlichen Wurzeln nachsagen kann - gelebt hat. Der Sohn dieser Familie machte seinen Wehrdienst in der serbischen Armee, also damals der jugoslawischen Volksarmee; heimgekommen ist er tot, in einem versiegelten Sarg, mit der Mitteilung, er habe Selbstmord begangen und der Sarg dürfe nicht geöffnet werden. Sie haben den Sarg trotzdem aufgemacht und festgestellt, dass der Sohn Verletzungen erlegen ist, die er sich nicht selber zugefügt haben kann. Dann saßen wir eine ganze Weile still dem Ältesten der Familie gegenüber und schließlich fragte ich ihn. "Haben Sie an Rache gedacht?" - Er antwortete: "Ja, ich bin mir aber auch bewusst, wenn ich diese Rache übe, trage ich die Verantwortung dafür, dass andere in derselben Weise reagieren." - Das ist für mich eines der wunderbarsten Beispiele dafür, dass das, was wir gewöhnt sind, als christliche Werte zu bezeichnen, Werte zwischen den Menschen sind, die es einfach gibt.

Angerer: Mensch sein und Mensch werden, das ist der eigentliche christliche Wert, von dem wir hier reden - es gibt ein Lehrbuch darüber, das ist das Neue Testament, das ist der Herr Jesus: "Was du dem geringsten meiner Brüder getan hast, hast du mir getan!" Das ist unsere Wurzel, unser Hintergrund - und davon wird auch die Zukunft Europas abhängen: Mensch zu werden, in der Einmaligkeit, auch der Ebenbildlichkeit Gottes, ist entscheidend.

Kössler: Die Sache mit der Gottes-Ebenbildlichkeit des Menschen ist doch schon lange bekannt - auch schon während der Zeit der Kreuzzüge, in der Zeit der Inquisition, dann bei den Kriegen mit den Protestanten, den Bauernkriegen … um der Würde des Menschen im politischen, rechtlichen Sinn zum Durchbruch zu verhelfen, hat es aber der Französischen Revolution bedurft.

Angerer: Das ist richtig und macht uns nur die Bedeutung des Grundsatzes "Ecclesia semper reformanda" bewusst, dass wir also angehalten sind, uns und die Kirche immer zu reformieren; aber ich unterscheide auch zwischen dem System Kirche und dem Inhalt der Kirche. Der Inhalt ist uns anvertraut; bei allem was geschieht, und es mögen immer noch Bremser unterwegs sein, es ist der Heilige Geist, der in dem wirkt, was wir Kirche nennen. So schlecht die Botschaft Jesu manchmal dargeboten wird, ich sage Ihnen, der Inhalt ist hervorragend, es gibt keinen besseren, nur die Vermarkter sind nicht immer die besten.

Kössler: Kann ein Europäer, eine Europäerin, der oder die nicht an Gott glaubt, der oder die sich nicht zu dieser Tradition bekennt überhaupt ein guter EU-Bürger sein? Er und sie können ja eigentlich nicht einmal auf die EU-Verfassung schwören, wenn dieser christliche Gottesbezug drinnensteht. Damit wird doch ein großer Teil der europäischen Gesellschaft ausgeschlossen.

Weninger: Das ist eine demagogische Frage, auf die ich demagogisch antworten möchte: Selbstverständlich, denn neben einer Invocatio Dei gäbe es ja auch einen Verweis auf das säkulare Europa. Ursprünglich gab es drei Präambel-Versionen; zwei waren suboptimal, und in der, die übrig geblieben ist, findet sich eine Aufzählung des christlichen Erbes, des allgemein geistigen Erbes, des humanistischen Erbes … Und das ist auch gut so, denn alle Bürgerinnen und Bürger Europas müssen sich darin wiederfinden und sich damit identifizieren können. Das ist auch eine Frage der Toleranz, die Bedeutung einer Weltanschauung, einer Religion für Europa anzuerkennen, die ich nicht teile oder der ich nicht angehöre.

von Kohl: Einspruch gegen diese Vorstellung von Toleranz. Duldung ist keine Toleranz. Notwendig ist Gleichberechtigung.

Angerer: Die Gleichberechtigung ist außer Diskussion gestellt. Wir leben in einem multikulturellen Europa und in einem Europa der vielen Religionen. Wir treten ja nicht in Konfrontation und Abgrenzung gegenüber anderen auf, nur weil wir uns unserer eigenen Herkunft und Prinzipien bewusst sind.

Weninger: Die Vielfalt Europas darf nicht nur nicht negativ, sondern muss positiv gesehen werden. Es ist das reiche Kulturerbe Europas, das uns in der Zukunft in der Auseinandersetzung zwischen Europa und den anderen Weltteilen einen unglaublichen Vorteil bringt. Jetzt geht es darum, dass die europäische Politarchitektur jenen Freiheitsraum eröffnet, innerhalb dessen sich die europäischen Bürger, gleich welcher Weltanschauung, verwirklichen können.

von Kohl: Die EU ist letztlich ein Konglomerat von Menschen und Ideen. Darum muss uns noch mehr als bisher bewusst werden, dass es weder schwarz und weiß, noch richtig und falsch, sondern alle möglichen Facetten dazwischen im Leben gibt - und alle ihre Existenzberechtigung haben. Wir beziehen die gegenwärtige Krise der EU immer nur auf uns selber - und geben uns letztlich doch zufrieden mit den Auswüchsen des Neoliberalismus und des ausufernden und alle Lebensbereiche beherrschenden Kapitalismus. Und was ist mit den Ländern in Ost-und Südosteuropa? Es gibt dort eine massive Desillusionierung gegenüber der EU. Weil die Union dem Konzept der 4/4-Gesellschaft nicht wirklich entgegentritt: Ein Viertel der Menschen ist reich und wird immer reicher; ein Viertel ist arm und wird immer ärmer - und diese Schere geht auseinander, und der Mittelstand verliert auch jede Sicherheit. Wenn es uns da nicht gelingt, wieder einen Ausgleich und mehr Gleichheit zu schaffen, dann halte ich die Zukunft der EU für nicht sehr gesichert.

Das Gespräch redigierte Wolfgang Machreich.

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