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Zwei literarische Versuche, Europa zu buchstabieren.

E. A. Richters Gedichte "Eurotunnel" fragen danach, was Europa sei, finden es im Lokalen, sind genial illustriert und nicht nur Europäern zu empfehlen.

Die Dringlichkeit, nach dem zu fragen, was Europa sei, ist nicht mehr nachzuweisen - E. A. Richters Band tut dies dennoch. Europa gleicht dabei schließlich jener Poesie, die einen gewissen Halt aus ihrer Regelmäßigkeit gewinnt, aber andererseits diese Stringenz nie Starre werden lässt. Europa wird aus dem Lokalen gewonnen, aus der "Region", die Schmidt-Dengler schon am letzten Gedichtband Richters "Das leere Kuvert" als essenziell hervorhob, doch "jenseits altertümelnder Heimatverbundenheit". Region nämlich, das ist auch die terroristisch devastierte U-Bahn-Station King's Cross, der Richter eines von vielen seiner Mementos widmet.

Ohne das falsch Kosmopolitische, dem die Welt zum globalen Dorf des immer Gleichen verfällt, ohne aber auch umgekehrt einen Regionalismus, der die Welt aussperrend dem Globalisierungsbefürworter dialektisch sich angleicht, schwadroniert Richter (bzw. sein lyrisches Ich) durch Europa, hier aber vor allem Großbritannien und speziell London, wo sich in der ironischen Traditionslust vielleicht wirklich die geglückte Verklammerung zweier Irrtümer findet, jedenfalls in der Optik Richters.

Genauer gesagt: Die Irrtümer werden von der Synthese nicht richtig, und das weiß und zeigt Richter, so in der Begegnung fischender Jungen an Regent's Canal mit einer nicht englischsprachigen Frau, der man ihre "Quasi-Nichtexistenz" an den Kopf wirft ... Ähnlich: Wien. "Mein Wortschatz / wird versagen, der Himmel über Wien lodern, stundenlang", Krisen und Optionen Europas real, doch zuweilen in Chimären am kenntlichsten.

Europa ist der Ort, an dem die Kritik erfunden wurde, sogar zum Glauben nobilitiert wurde - gerade in dieser Poesie, die unangestrengt genau dieses Projekt wieder entdeckt. Europa ist, das Skandalon des Sich-Bewährens zu sehen: "immer wenn ich lese umklammern sie mich / Vater und Mutter als Krankheit / und ich müsste vergehen vor Sehnsucht / nach ihrer Lebendigkeit vor Scham / über mein Zufriedensein / mit ihrem beinah gleichzeitigen Tod."

Nach diesen Versen weiß man, wieso Europa und darin Wien die Verdrängung entdeckten, auf der jeder Erfolg ruhen mag; und: Warum auch diese Entdeckung vor allem außerhalb Europas ein solcher Erfolg wurde, wie er mit der Idee der Therapie, die ihn herstellen kann oder könnte, kaum vereinbar ist.

Ein feiner, verstörender Band, kongenial illustriert. Nicht nur Europäern zu empfehlen.

Eurotunnel

Gedichte von E. A. Richter

Grafiken von Waltraud Palme

Literaturedition Niederösterreich, St. Pölten 2005

127 Seiten, geb., e 23,-

Michael Stavaric Litanei "Europa" ist ein kurios groteskes Kabinett dessen, was sich als Wissen versteht oder ausgibt.

Wenig ist für die österreichische Literatur so bezeichnend, wie ihr Hang zum Monologischen - seit Abraham a Sancta Clara über Thomas Bernhard bis Elfriede Jelinek sind hier Texte entstanden, deren Rhythmik und Furor seinesgleichen sucht.

Michael Stavaric ist Wahlwiener und steht mit seiner Litanei in dieser Tradition; seine Litanei befasst sich mit Europa, und das heißt, wie der Band behauptet und zeigt, sie muss sich mit allem befassen: Die Geschichte Europas ist "eigentlich die Geschichte aller". Die Geschichte aller aber ist nicht zu erzählen, ist darauf einzuwenden - und wenn Geschichte das ist, was nicht (mehr) ist, also ein fragiles Erinnern, so bliebe hier nur eine kaum artikulierbare Spannung der Narrative.

Stereotypen und Google

Dagegen setzt der Verfasser seine Akkumulation von Stereotypen, per Google Ermitteltem und dergleichen mehr. Das Resultat ist ein zunächst einmal kurios-groteskes Kabinett dessen, was sich als Wissen versteht oder ausgibt - und dabei beginnt Stavaric mit den Vereinigten Staaten, von denen Europa nur seltsame Versatzstücke kennt, nämlich weiß, "die Amerikaner hätten einfach nur keine Geschichte und seien eine Nation von Simulanten".

So wächst ein babylonischer Turm angehäuften Missverstehens: Man erfährt von einem progressiven Mullah, der gesteinigt wird, von einer Frau, deren Achsel-und Schamhaare ihr Mann gegen ihren Willen im Internet versteigert - oder ist das doch "völlig an den Haaren herbeigezogen"?, davon, dass Texaner ihre Waffe als ungefährlich betrachten, wenn sie nur "ordentlich in Schuss ist". Ein Abgrund nach dem anderen wird vorgeführt: "Und Litauerinnen sind hübsch und adrett und bei Pornoproduzenten beliebt" - keine Kultur, die intakt wäre.

Vor allem aber jene ist es nicht, die sich durch all die Klischees hindurchmäandert, in einem falschen Sinne kosmopolitisch. Das ist es, was hinter all den Eindrücken und den sie suspendierenden Kalauern durchschimmert, dass also Europa das Bewusstsein ist, Kultur müsse als solche von sich selbst differieren.

Zahllose Faktizitätslücken werden vorgeführt, durch das "Und", das freilich schon von Günther Anders oder auch Peter Sloterdijk - als "Totalsynthese [...] auf dem Nullpunkt der Intelligenz, in Gestalt einer Totaladdition" - in seiner Zweifelhaftigkeit gezeigt wurde, sowie durch Jim Morrison, Jean Paul und Sprichwörter verbunden.

Sinnlosigkeit

Über die Einsicht in die Sinnlosigkeit hinaus aber ergibt sich ab einem gewissen Punkt kein rechter Mehrwert mehr; vielleicht ja auch dies eine Forderung, die sich der global-kapitalistisch-uniformen Sichtweise verdankt, deren Malice der Autor offenlegt, sie bleibt aber jedenfalls unerfüllt, irgendwann bleiben eben nur das Stakkato und der Kalauer.

Dieser Eindruck des Sich-Totlaufens des Verfahrens wird verstärkt, weil die originelleren Verallgemeinerungen am Anfang des Buches stehen, zum Beispiel: "Und Pessimisten mögen Blues und Optimisten hören lieber Rock oder Pop oder gar keine Musik, weil sie das [...] ablenken und so den Erfolg kosten könnte." Erträglich sind da nur manche Passagen, worin sich sichtlich Klischee und Wahrheit aneinander abarbeiten.

Diese Momente aber retten den Band leider nicht mehr davor, einer derer zu sein, die viel versprechend beginnen ...

Europa

Eine Litanei

Von Michael Stavaric

kookbooks, Idstein 2005

197 Seiten, kart., e 17,40

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