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Europabewußtsein?

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„Europa“, sagte unlängst ein bitterer Kommentator, „das ist der Gemeinplatz, auf dem die Politiker ausweichen, wenn ihnen nichts mehr einfällt.“ Solche Bitterkeit ist gerechtfertigt, aber sie soll unseren Blick nicht trüben. Gibt es nicht tatsächlich Fortschritte? Läßt sich nicht vor allem ein Erstarken des europäischen Bewußtseins feststellen? Viele Beobachter neigen dazu, diese Frage zu bejahen. Aber sie geraten in Verlegenheit, wenn man mehr von ihnen zu erfahren wünscht. Was ist das Wesen dieses Bewußtseins? Ist es ein ins Kontinentale gesteigertes Nationalgefühl? Oder etwas ganz anderes? Und aus welchen Zeichen schließen wir, daß es sich gefestigt hat?

Vielleicht ist es gut, sich zunächst nicht mit Definitionen abzuplagen, vielmehr festzustellen, daß sich ein Gefühl dieser Art keinesfalls erst in unserer Zeit entwickelt hat. Im Mittelalter war es die „Christenheit“, die trotz Streit, Turbulenz und ewigem Waffenlärm als Einheit empfunden wurde, manchmal auch als E i n-h e i t handelte. Die Glaubenskriege spalteten den Kontinent, aber unter den aufgeworfenen Gräben blieb ein feines Adernwerk alter Wurzeln. Im 18. Jahrhundert waren die Gräben erstaunlich dicht überwachsen, wenn auch das Geflecht nicht immer trug. Das Gefühl der Einheit fand einen Ausdruck, der uns verhältnismäßig modern anmutet; Gleichheit wie Verschiedenheit war Gegenstand der Forschung: man war sich der Verwandtschaft, der Homogenität sehr bewußt.

Politischer Ausdruck dieses Geisteszustandes war das „Konzert der Mächte“; es ächtete den Krieg nicht, aber es humanisierte ihn, die Vernichtung des Gegners wurde weder erreicht noch angestrebt. Die nach den napoleonischen Kriegen einsetzende Entwicklung zum zentralisti-schen Nationalstaat wurde von einer Überbewertung des Sprachlichen begleitet, an der die Romantik nicht unschuldig war. An Stelle unzähliger kleiner Grenzen, an die man kaum mehr glaubte, die aber noch Realität waren, und an Stelle eines großen Zusammenschlusses, an den man noch glaubte, in dem es aber kaum mehr Realität gab, traten einige harte Linien. Die „kleine“ und die „große Grenze“ verschwanden, die „mittlere“ blieb, um sich tief einzugraben: Zu Ende des 19. Jahrhunderts flackerte das europäische Bewußtsein nur mehr, ging durch eine Schwächeperiode, die von der Tatsache kontrastiert wird, daß die technisch-wirtschaftliche Entwicklung endlich einen einheitlichen Rahmen geschaffen hatte, innerhalb dessen alles vortrefflich geordnet schien. Dieses „Wohlgeordnetsein“ wird uns heute gern durch die Tatsache illustriert, daß man vor 1914 ganz Europa ohne Paß bereisen konnte, so man sich nicht darauf kaprizierte, Rußland oder die Türkei zu besuchen. Aber dieser Zustand war einigermaßen zufälliger Natur, womit gesagt sein soll, daß ihm die ideelle Deckung fehlte. Man lebte vielleicht in einem De-facto-Europa, aber man dachte , in harten nationalstaatlichen Begriffen. Der Widerspruch trug mit zur Katastrophe bei.

Nach 1918 wurde das europäische Bewußtsein wieder stärker, ohne die schöne Sicherheit des 18. Jahrhunderts wiederzugewinnen. Es blieb verwoben mit zwei anderen Impulsen: dem internationalen Pazifismus und dem Gefühl, nun in einer Welt zu leben — Wendel Wilkie, der amerikanische Präsidentschaftskandidat, ist während des zweiten Weltkrieges zum Interpreten und Vorkämpfer dieser Auffassung geworden. Das sind ganz verschiedene Dinge, gewiß.

Überblickt man diese flüchtige Skizze, so fällt noch etwas auf: Dem europäischen Bewußtsein entspricht zu jeder Zeit — wenn auch nicht klar umrissen oder endgültig begrenzt — ein bestimmter Raum.

Im Mittelalter war es ein sehr großer: von Edinburgh nach Krakau und von Stockholm nach Palermo, im 18. Jahrhundert ein bereits eingeengter Bereich, der aber beispielsweise noch Polen und England umschloß. Nach dem ersten Weltkrieg eine weitere Kontraktion; die Verengung erreicht nach dem zweiten großen Ringen neue Intensität: Nicht nur bleibt Rußland ausgeschieden, auch die Satellitenstaaten gehören nicht mehr so ganz dazu, und wenn man genau hinsieht, dann entdeckt man eine Trennungslinie an den Pyrenäen und gleich zwei am Ärmelkanal, ine alte, halbverblaßte und eine neue, die sich in einem wirren Muster überschneiden. Gegen diese Feststellung erhebt sich stets ein ebenso schöner wie leidenschaftlicher Einspruch, dem wir mit Sympathie gegenüberstehen. Aber hier soll nicht das beschrieben werden, was wir wünschen oder begrüßen, sondern das, was ist oder zu werden droht. Auch um Nuancen geht es nicht, wie etwa um die Tatsache, daß Polen stärker im europäischen Bewußtsein geblieben ist als etwa die Tschechoslowakei.

Viele Beobachter sehen nun in der sich abzeichnenden Begrenzung eines neuen Europabewußtseins im wesentlichen auf die Grenzen des karoiingischen Reiches weder seinen einzigen noch seinen bedenklichsten Makel. Sie geben zu bedenken, daß es ein Kind der Negation ist, aus Abwehrgefühlen geboren, in Angst gezeugt. Der Schweizer Gelehrte Karl Schrnid hat beispielsweise darauf hingewiesen, daß sich hinter dem Europabewußtsein ein Projektionsmechanismus verbirgt. Wir haben uns, zumindest seit 1945, angewöhnt, das innere Unbehagen, das von einem tiefen Schuldgefühl gespeist wird, auf die Flügelmächte, auf Rußland und Amerika also, zu projizieren. Vor der Macht der beiden Giganten flüchten wir in die Zitadelle eines ganz unbegründeten Überlegenheitsgefühles. Wir weisen das, was uns aus diesen riesigen Welten so unwirtlich anweht, als „fremd“ und „barbarisch“ zurück, das seien „Massenzivilisationen“, mit denen wir nichts oder möglichst wenig zu tun haben wollen. Sonst müßten wir uns nämlich eingestehen, daß wir in beiden Lebensformen eigene, zu Ende gedachte und mit Erfolg zu Ende gedachte Maximen zu erkennen haben.

So aber geht es nicht, meint Karl Schmid, wir können uns nicht am Schopf der eigenen Kulturüberlegenheit aus dem Sumpf unserer Machtlosigkeit herausziehen; mit einem europäischen Bewußtsein, das von diesem Projektionsmechanismus abhängig ist, läßt sich nicht viel anfangen, man muß es auflösen und ein neues, echteres, demütigeres Europabewußtsein formen.

Wahrend wir uns nun mit der Diagnose weitgehend identifizieren könneW'pf^gege'n die Schlußfolgerung gewichtige Einwände. Die Nationen nehmen im allgemeinen nicht auf dem Sofa des Psychoanalytikers Platz; ihre Vorstellungen in einem langwierigen Prozeß auf ihre Ursprünge zurückzuführen und neu aufzubauen, ist meist unmöglich; in bunter Folge reihen sich Irrtum an Wahrheit, Illusion an Wirklichkeit. Nur in ganz, ganz seltenen Fällen kann in einer drastischen Schocktherapie eine Reduktion aller Begriffe auf ihren Nennwert durchgeführt werden — Deutschland im Jahre 1945 schien eines der Beispiele —, der Politiker tritt dann in der Rolle1 des Volkspsychiaters auf, für die er schlecht vorbereitet ist, und es muß ihm bewußt sein, daß ein solcher Eingriff, wie notwendig er nun sein mag, tiefe Narben zurückläßt, von denen neue Funktionsstörungen ausgehen werden. Ansonsten ist für den Politiker — und wir sprechen zunächst von ihm, da seine Taten ja erst den Rahmen schafften, in dem die Leistung der Geisteswissenschaftler, Historiker und Journalisten wirksam werden kann — das Bewußtsein des Volkes einfach eine der Komponenten, die sein Handeln mitbestimmen. Hier hat er es mit Kräften, Impulsen und Gegebenheiten zu tun, an die zunächst kein moralischer Maßstab anzulegen ist. Nicht woher Energien kommen, ist maßgeblich, sondern wozu man sie verwendet und wohin man sie führt. Die negative Qualität, die dem Europabewußtsein zweifelsohne innewohnt, stellt also für den Politiker a priori keinen Mangel dar. Seine Aufgabe ist es indes, zu verhinderii, daß diese Impulse falschen Konzepten dienstbar gemacht werden. Seine Aufgabe ist des weiteren, die ja auch der Abwehrsituation durchaus eigenen schöpferischen Kräfte — Besinnung auf die eigene Vergangenheit, Zuversicht in die eigene Zukunft, Freude am Gemeinsamen in der Vielfalt — zu mobilisieren, um das Europabewußtsein, ohne es vorher radikal auszuräumen, zu bereichern und zu intensivieren.

Dazu muß man allerdings eine gewisse Vorstellung besitzen, wie es denn sein wird, dieses Europa von morgen, auf das unser Bewußtsein immer mehr abgestimmt werden sollte. Man wird gut daran tun, dieses Bild in aller Nüchternheit zu zeichnen und weder den Utopisten nachzugeben noch die Konservativen mit der Vorstellung einer völlig vermischten, nur noch „Basic English“ sprechenden Europabevölkerung zu erschrecken.

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