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Existenz-Philosophie

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Wie lange reden wir nun schon von „Existenz”, „Existentialismus”, „Existenz-Philosophie”, „Esisten- zialismo” — ? Noch gar nicht so lange. Nehmen wir Kierkegaard aus, diesen Urvater, so leben sie alle noch, die uns diese Worte und Begriffe brachten. Aber immer noch fischen wir im Trüben, wenn wir „Existenz” sagen. Es ist ungefähr so, wie es Augustinus ging, der gestand, wenn man ihn frage, was die „Zeit” sei, wisse er es nicht; werde er aber nicht gefragt, so wisse er es recht genau! —

Da kommen gleich auf einmal zwei Bücher, die dieser Verlegenheit abhelfen — die auf eine Weise befreiend wirken wie die Alexanders vor den gordischen Knoten;

Existenzphilosophie lebendig oder tot? Von Fritz Heinemann. Verlag Kohlhammer, Stuttgart.

208 Seiten.

Hier wird uns die „Geschichte” der Existenz- Philosophie gegeben. Die Namen der historischen Träger sind mehr oder weniger bekannt und bereits ins Publikum gerutscht: Kierkegaard, Husserl, Jaspers, Heidegger, Sartre, Marcel, Berdjajew (letzterer durch Karl Pflegers „Geister, die um Christus ringen” bekannt geworden, und hier, in dieser Reihe wohl am erstaunlichsten!). Jeder dieser Denker hat etwas dazu beigetragen, daß diese Philosophie zustande kam. Das „Problem”? „Der mit Menschen, dem All und Gott in Resonanz stehende Mensch ist der Schlüssel zum Verständnis der Menschenwelt, der Geschichte und des Alls.” Kürzer kann es nicht gesagt werden, was diese Art der neuen Menschenkunde betreiben will. Wer über die Beziehungen des konkreten, des lebendigen Menschen nachdenkt, die dieser hat und haben kann, der ist ein Existenz- Philosoph. Gott, das Aįl, die Geschichte und der Mensch - das sind „unsere” Probleme. Aber diese handeln wir nicht ab, wie eine Mathematik oder ein uns nichts angehendes abstraktes Denkgebilde, sondern so, daß wir selbst immer dabei, wir Denkenden, in Frage stehen, wenn wir das „Problem” der. Beziehung nicht lösen. Heinemann sieht die Fraglichkeit unseres Lebens, unseres menschlichen So-Da-Seins mit Gott, All, Menschen und uns selbst in dem, was er „Entfremdung” nennt. Dieser Ausdruck scheint sehr geglückt; wir Menschen sind fremd geworden für uns, für uns vor Gott, vor der Gesamtschöpfung, vor den geschehenden Geschehnissen der Geschichte. Wir sind immer etwas, das sich aus alldem heraüs- halten kann — aber auch immer ein wenig ausgewiesen erscheint. Oder sind wir nicht — um nur eines der Beispiele zu nennen — in der „technischen Welt” fremd? Wir brauchen und gebrauchen die Technik, aber sie wächst uns über den Kopf und macht sich selbständig. Wie Zauberlehrlinge befinden wir uns in dem technischen Getriebe und halten uns mühsam darin aufrecht. Es stimmt etwas nicht zwischen uns und unserem Kinde Acknon-„Technik”. W i e sich diese Entfremdung von den verschiedenen Blickpunkten der genannten Philosophen aus dar Beinemaftn. uns Vorgefühtt!’ Für diese ISdrheįtfčeį-jljjm,gedankt. D.endlwir kennen imtn-zumindest die philosophischen „Väter”, die uns auf uns und unsere Bezugsarmut aufmerksam machten. Was wir selbst leben und erleben, aber nicht verstehen, haben diese „Väter” uns ins Bewußtsein gebracht, und Heinemann hat es uns in meisterhafter Kürze und Sachkenntnis verdeutscht. (Letzteres Wort mußte gewählt werden, weil die Sprache der Existenzphilosophen oft — ne dicam: immer! — an die Grenze der Unverständlichkeit kommt. Ob das in der Sache liegt? oder in der Denkart? oder in der neuen Seinsart? Wer weiß?!)

Dann ist da in vierter Auflage das Buch „Existenz- Philosophie” von Otto Friedrich B o 11 n o w, Verlag Kohlhammer, Stuttgart, 137 Seiten. Bollnow fängt es umgekehrt an; er stellt die Probleme der Existenzphilosophie heraus — das, was diese Philosophen gemeinsam haben und wollen. Im Grunde also auch das gleiche wie Heinemann. Nur klärt und erklärt Bollnow die „Inhalte” dieser Philosophie: woran wir leiden, wenn wir uns entfremdet fühlen; woran wir Entfremdung erleben und durchleben müssen. „Mensch und Gemeinschaft”, „Grenzsituation”, dann vor allem die immer wiederkehrenden „klassischen” Kapitel der Existenzphilosophie „Angst”, „Langeweile”, „Schwermut”, „Verzweiflung”, „Tod”, „Zeitlichkeit”, „Geschichtlichkeit”. Wer eine nichtreligiöse Betrachtung, eine Meditation über den konkreten, erlebenden Menschen, über sich selbst in seiner Zeit anstellen will, der nehme sich für gute und üble Tage, im Urlaub und in den Kurzpausen der Arbeit dieses Buch zur Hand. Es ist erstaunlich, wieviel Selbsterkenntnis Herr Jedermann aus diesem Buche gewinnt — ohne das beschämende Gefühl zu haben, daß nur er selbst, der Lesende, zu den stets scheiternden Menschen der Gegenwart gehört. Bis an die „Grenzen der Existenzphilosophie” werden wir herangebracht und es ist eine durchaus einsichtige Forderung, wenn Bollnow auf eine Ueberwin- dung der Existenzphilosophie von innen heraus dringt; auf den Uebergang aus der Verzweiflung in einen neuen Glauben. Dieser Glaube darf nicht Flucht in neue Irrationalitäten oder alte Romantiken sein. Ein Glaube an die Kraft des Verstandes zuerst und dies gewiß. Aber in all dem liegt schon das, was außerhalb der Existenz-Philosophie angelegt ist und von dem sie innerlich ein absurdes Zeugnis geben muß: der Denker muß zum Beter werden (ohne je das Denken zu verachten); der existierende Denker muß an einem Ziele, an seinem eigenen Ziele ankommen und sich dann selbst übersteigen, indem er niederkniet und anbetet. Dann ist er zwar formal kein Denker mehr, aber er wurde durch das Denken im Konkreten und in den lebendigen Bezügen zu einem Menschen. — Um der Klarheit und der Kenntnis der Gegenwartsphilosophie willen sollten diese beiden Bücher von allen Denkwilligen gelesen werden. Die Suchenden werden Bestätigung für viel Eigenerlebtet -finden und mutmachende-Ausblicke.

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