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Ulrich Greiner wendet sich an wenige: die Leser.

Vor 20 Jahren sagte der Kulturkritiker George Steiner, Lesen werde in absehbarer Zeit wieder eine so seltene Kunst wie im Mittelalter, als nur die Mönche sie beherrschten. Heute sind wir so weit: Viele haben diese Kulturtechnik verlernt; jenen, die noch lesen können, mangelt es an Zeit und innerer Ruhe. Der "Leseverführer" von Ulrich Greiner, dem Literaturchef der "Zeit", wendet sich also an wenige - ein exklusives Buch. Doch für diese ist Greiners "Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur" ein Muss.

Anders heraus als hinein

Wirkliche Leser wissen, dass man aus jedem Buch anders herauskommt, als man hineingegangen ist. Sie wissen aber vielleicht nicht, warum sie so gern lesen. Überraschende Antwort des Verführers Greiner: Wir lesen aus Eskapismus. Die Flucht in eine Scheinwelt ist nichts Schlechtes, denn wer sich auf diese Weise verführen und entführen lässt, wird reich, erschütterbar, bekommt offene Augen für die Tatsache, dass es nicht nur eine, seine Wirklichkeit gibt.

Ulrich Greiner macht Mut: "In der Literatur gibt es keinen wirklich stringenten Lehr- und Leseplan." Sein Augenmerk gilt Romanen, denn die Fülle von Möglichkeiten, verschiedenen Wirklichkeiten zu begegnen, ist im Roman am größten.

So "real" können Romane auf Leser wirken, dass ihre Figuren aus den Büchern heraustreten. Man denke nur an Sherlock Holmes, die Schöpfung A. C. Doyles, an Parzival von Wolfram von Eschenbach, Kohlhaas von Kleist, Emma Bovary, Oblomov von Gontscharow, Captain Ahab aus Melvilles "Moby Dick", Harry Potter. Wann ist ein Roman ein guter Roman? Müssen gute Romane immer schlecht ausgehen? Greiner zitiert Sophokles: "Vieles ist ungeheuer, nichts ungeheurer als der Mensch."

Indem Greiner Textpassagen vorstellt, bringt er dem Leser Werke nahe, von denen dieser vielleicht gehört hat, die ihm aber wie ferne, unerreichbare Gipfel schienen: Hans Henny Jahnn ("Fluss ohne Ufer"), Kafka, Melville, Italo Calvino, zeitgenössische Autoren.

Bei aller Internationalität plädiert Greiner für das Kennenlernen der Literatur des muttersprachlichen Raums: "Du kannst nur wissen, wer du bist, wenn du weißt, wo du herkommst. Dein Herkommen aber beschränkt sich nicht auf den Geburtsort und die Familie, es schließt die Sprache ein und die Kultur - die Geschichte also jenes Raumes, in dem du dich bewusst oder meist unbewusst bewegst. Aus diesem Grund halte ich es für notwendig, auch die Literatur dieses kulturellen Raumes zu kennen. Ein bisschen zumindest, denn kaum einer kann sie vollständig kennen, und das muss auch nicht sein."

Dialog mit dem Autor

Greiner betont, dass beim Lesen der Leser mit dem Autor in einen Dialog tritt. Lesen ist eine aktive Sache: ich erzeuge aus kleinen schwarzen Zeichen auf dem Papier Bilder, Gedanken, Gefühle, kann durch diese Zeichen zum Lachen oder Weinen gebracht werden, in Zorn geraten oder an Weisheit zunehmen. Klar, dass das auch bei einem guten Buch nicht immer gelingt. Man lege daher ruhig mal auch ein Buch halb gelesen aus der Hand. Nicht alles passt in den jeweiligen Lebens-Augenblick eines Lesers.

Wer sich diesem bezaubernden Lese-Verführer hingibt, wird eine bisher unreflektierte Tätigkeit - Lesen - plötzlich in neuem Licht sehen. Seien Sie heikel, lesen Sie nicht jeden geschwätzigen Schmarren, machen Sie sich auf ins Hochgebirge der Literatur. Sie werden unendlich bereichert zurückkommen.

Leseverführer

Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur

Von Ulrich Greiner

C. H. Beck, München, 2005

215 Seiten, geb., e 15,40

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