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Exzellenz, der Rikschafahrer

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Lucknow, die Hauptstadt des größten indischen Einzelstaates Uttar Pradesh, nur wenige hundert Kilometer von New Delhi gelegen, weist „nur“ einige Tausend Obdachlose auf, während sie in Bombay weit in die Hunderttausende gehen und in Kalkutta über eine halbe Million ausmachen.

Man könnte nun vermuten, daß wenigstens die Untersten der Unteren ohne Rang- und Klassenprdnung wären. Eine an der Lucknow University durchgeführte Studie wies jedoch überzeugend nach, daß dies nicht einmal da der Fall ist, wo diese unterste Schicht einer Gesellschaft eine relativ kleine, noch übersehbare Gruppe ausmacht.

Die „Pavement Sleepers“ (wörtlich Pflasterschläfer) von Lucknow halten vier bestimmte Stellen der Stadt besetzt. Je ein Typus von Obdachlosen läßt sich auf dem Pflaster nieder. Nahe dem Gol Darwaga Circus versammeln sich die Bettler, beim Ghazi-Uddin-Haider-Kanal sind es die Krüppel und Leprakranken. Die Zigeuner schlagen ihr Domizil vorübergehend unter den Brückenpfeilern nahe beim Bahnhof auf. Die „Aristokratie“ der Verworfenen liegt in der Nähe des Kaiser-bagh-Brunnens. Die Kühlung, die sein Wasser abgibt, ist ein begehrtes Standesprivileg.

Auch innerhalb jeder einzelnen Gruppe gibt es eine gewisse hierarchische Gliederung. Es ist aber nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste, die dabei den Ausschlag gibt. Die „Letzten von den Letzten“ haben sich ihr eigenes Ausscheidungsmerkmal geschaffen. Gewöhnlich leiten sie ihr „Recht“, an einer bestimmten, bevorzugten Stelle zu schlafen, davon ab, daß sie diesen Ort vor allen anderen schon seit Jahren besetzt gehalten haben. Man erschläft sich also gewissermaßen seinen Lagerplatz.

Interessanterweise gehören die heutigen Obdachlosen keineswegs nur den Kastenlosen und untersten Kastenangehörigen an. Eine Auswahl von 50 Pavement Sleepers weist zehn Brahmanen (Angehörige der höchsten Kaste), einen Khatri, vier Christen, 13 Mohammedaner und einen Chinesen auf. Fast 30 Prozent der Obdachlosen gehören also bestimmten Minderheitengruppen an, was einen bezeichnenden Hinweis auf ihre Stellung im unabhängigen Indien vermittelt. Auch die überaus hohe Beteiligung der Brahmanen (20 Prozent) ist nicht verwunderlich. Die Priesterkaste hat seit eh und je den Geldbesitz als Prestige-symbol abgelehnt. Nach einer zweihundertjährigen Kolonialherrschaft und 15 Jähren Unabhängigkeit finden sich viele ihrer Vertreter auf dem Pflaster. Aber selbst wenn sie da unten angekommen sind, weigern sie sich regelmäßig, mit anderen Kastenangehörigen zu essen. Sie bestehen darauf, sich ihre Speisen selbst zu bereiten. Wenn man schon untergeht, dann soll es in Würde geschehen!

Die Obdachlosen sind keineswegs so zu , bedauern, wie man es aus europäischer Sicht zu tun geneigt ist. Während sieben Monaten sind die Nächte von Lucknow derart heiß, daß fast nichts anderes als das Übernachten im Freien übrigbleibt. Eine Luftkühlanlage kann sich kaum jemand leisten, und viele wohlhabende Leute ziehen es vor, auf der Veranda oder im Garten als im Inneren ihrer Häuser zu schlafen. Während der Wintermonate ist das Leben der Obdachlosen weniger begehrenswert. Im Dezember und Jänner sinkt das Thermometer in Nordindien oft auf den Gefrierpunkt. Im vergangenen, besonders harten Winter sind bekanntlich Tausende erfroren. Allein in Delhi waren es nach vorsichtigen Schätzungen über 3000 Personen. Noch vor wenigen Jahren drohte den Schlafenden die Gefahr, von Hyänen und Tigern angefallen zu werden.

Die meisten Bedenken ergeben sich in moralischer Hinsicht. Der Mangel einer Privatsphäre wirkt sich verheerend aus. Die Sitten auf dem Pflaster sind eher lose. Die Homosexualität ist stark verbreitet. Die ineisten Obdachlosen sind männlichen

Geschlechtes. Es herrscht eine männliche Atmosphäre. Wer eine Familie besitzt, unternimmt alles, um eine Wohnung zu finden und seine Frau den Blicken der Umwelt zu entziehen. Nur drei der 50 Obdachlosen schlafen mit ihrer Frau in einer Ecke der Charbagh-Statioty. Der Schleier ist nur ein äußeres Symbol. 14 von 20 Jugendlichen gehören einer Verbrecherbande an. Sie verüben gelegentliche Diebstähle in Lebensmittelgeschäften und Warenhäusern.

Manche sind nicht gezwungen, im Freien zu nächtigen. Sie entflohen einer allzu starren Familienherrschaft (insgesamt 22 von 50), einer bösen Stiefmutter (15), einem tyrannischen Vater (7). Die Abenteuerlust treibt viele auf die Straße. Hier können ihre Nächte nicht kontrolliert werden. Das Pflaster bedeutet die Freiheit. 62 Prozent der Obdachlosen sind im Alter von 10 bis 30 Jahren, 22 Prozent zwischen 16 und 20. Offensichtlich ist der freie Himmel ein Ventil ungelöster Pubertätsprobleme.

Viele der Pflasterschläfer sind untertags schwer beschäftigt. Von den 50 sind 22 Hilfsarbeiter, sechs Bettler einer Bettlerzunft, zwei Rikschafahrer und zwei andere Angehörige eines Bettlerordens. Nur 18 unter ihnen müssen als Vagabunden bezeichnet werden.

Der König der Verlorenen ist ein Rikschafahrer. Er schläft beim kühlenden Brunnen in seiner Rikscha. Es ist ein Dreirad zur Beförderung von Passagieren. Seine „Fahrradkutsche“ ist ihm Schlafzimmer, Empfangssalon für seine Freunde und Broterwerb in einem. Sein Wort ist Gesetz im Lager der Obdachlosen beim Brunnen. Wenn ein neuer Tag am Horizont aufzieht und die Pflasterbewohner dem Verkehr Platz machen müssen, schläft er ungeniert in seiner Rikscha. Niemand unter seinesgleichen wagt es, ihn zu stören. Nur ein Kunde darf ihn ungestraft aus dem Schlafe wecken.

Das Leben auf dem Pflaster ist nicht ohne Poesie. In schwülen Nächten erzählen die Alten zum Ergötzen der Kinder Märchen und Legenden aus dem reichen Schatz der indischen Mythologie. Am frühen Morgen begrüßen sich die „Pflasterschläfer“ mit einem Ram Ram oder Jasi Ram Jiki. Es ist wahrscheinlich das einzige Mal, daß sie den Namen Gottes aussprechen. Gott und die Zugehörigkeit zu einer besonderen Religionsgemeinschaft spielen keine große Rolle im Leben der Obdachlosen. Der Hinduismus gibt ihnen keinen Trost. Wer arm und verlassen ist, ist es nach dieser Religion durch eigenes Verschulden. Jeder einzelne kann aber auf Tiere und Pflanzen hinunterblicken. Keiner ist so tief gestellt, daß er nicht noch im eigenen Lager einen anderen unter sich hätte. Der Letzte der Letzten rühmt sich, in Lucknow und nicht in Bombay oder Kalkutta zu sein. Viele der Obdachlosen sind von weither hierhergekommen. Es hat sich herumgesprochen, daß man als „Pavement Sleeper“ in dieser Stadt am besten „untergebracht“ ist. Die Industrialisierung hält sich hier in einem bestimmten Rahmen. Der Wohnungsbau kann mit ihm einigermaßen Schritt halten, so daß nicht — wie in den Millionenstädten — immer mehr Menschen gezwungen werden, ihr „Zelt“ aus Lumpen und einer Decke unter freiem Himmel aufzuschlagen.

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