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Fahrt im ersten Automobil

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Viele Leute aus dem Lokal, meistens Schauspieler, waren uns auf die Straße hinausgefolgt, und unter lauter Begeisterungsrufen fuhren wir ab. Die Schauspieler sahen uns nach, als wir in die fliederfarbene Dunkelheit hineinfuhren, und ich entsinne mich genau daran, daß ich zurückblickte und ihre lächelnden und unnatürlichen Gesichter sah, helle Masken mit einsamen, geisterhaften Äugen. Sie riefen dem Daddy komische Sachen nach, einer fragte ihn, ob er ihm eine letzte Botschaft anzuvertrauen hätte, und de Wolfe Hopper war dabei, und er tat so, als wäre er ein Pferd, und er wieherte und versuchte, einen Laternenpfahl hinaufzuklettern. Oh, es war aufregend!

Mr. Gates fragte: „Wohin die Fahrt, Joe?“

Und Daddy sagte: „Nach San Franzisko und zum .Goldenen Horn'! Und zwar ohne Aufenthalt und Verzug!“

Und dann fragte Daddy den jungen Chauffeur: „Wie schnell kann die Maschine denn fahren, Sohn?“

Und der junge Mensch sagte: „Sie macht mühelos dreißig Kilometer die Stunde“.

„Bergab, meinen Sie wohl“, sagte Daddy, um ihn aufzuziehen, und wir fuhren davon, und — mein Gott! War das aufregend! Mir kam's wie geflogen vor! Ich nehme an, daß der Chauffeur dreißig Kilometer die Stunde fuhr, aber das war so, wie wenn man heut' hundertundsechzig Kilometer fährt, und wir kamen an einem berittenen Schutzmann vorbei, dessen Gaul scheute und durchgehen wollte, und — mein Gottl Wie wütend der Schutzmann war! Er galoppierte hinter uns her und schrie, wir sollten halten, und Daddy lachte, als wäre er von Sinnen und rief: „Fahr zu, Sohn! Fahr zu! Auf der ganzen Welt gibt's kein Pferd, das uns einholen kann!“

Aber der Chauffeur kriegte es doch mit der Angst zu tun und bremste, der Schutzmann kam hoch zu Roß heran und sagte, was uns denn einfiele und was wir uns denn einbildeten, und er hätte gute Lust, uns alle zu verhaften wegen nächtlicher Ruhestörung mit „dem Ding da“. Er nannte den Wagen nicht anders als „das Ding da“, und zwar in einem sehr verächtlichen Ton, und das ärgerte mich sehr, denn der Wagen kam mir ungeheuer schön vor; er war lackiert, ein dunkles, schweres Weinrot, und sah appetitlich genug zum Hineinbeißen aus.

Ich weiß nicht, warum mich das so in Wut brachte, aber mich dünkt jetzt, der Grund war wohl der, daß mir der Wagen überhaupt nicht wie ein Ding erschien. Es ist schwer zu sagen, warum es mir so ging; es war eben so, als wäre der Wagen ein fremdes, schönes, lebendiges Geschöpf, das wir zuvor nicht gekannt hatten und das nun da wäre, Mm unser Dasein fröhlicher, wärmer und wunderbarer zu machen. Ich glaub', den meisten Menschen ist es so gegangen mit den ersten Automobilen ... Irgendwie schien jedes Automobil von allen anderen verschieden zu sein, schien es einen eigenen Namen, ein Leben für sich und eine besondere Persönlichkeit zu besitzen. Gewiß, ich weiß, diese Wagen würden heutzutag plump und komisch und altmodisch wirken, damals aber war das ganz anders. Wir hatten nie zuvor um Automobile gewußt oder Automobile gesehen, wir hatten höchstens geträumt oder gehört, daß es so etwas geben könne, und nun fuhren wir in einem Automobil, und das ganze Erlebnis kam mir einfach unglaublich vor und doch glorreich wirklich und seltsam, eben so, wie es einem am Anfang mit jeder schönen Sache geht.

Ich kann mich genau daran erinnern, wie der alte Wagen aussah, so genau, daß ich ihn mit geschlossenen Augen hinzeichnen könnte. Ich kann mich gut an das tiefe Weinrot erinnern, an die großen, blankgeputzten, messinggefaßten Vorderlampen, an die Schlagtür, die in den bauchigrunden, rückwärtigen Sitzraum ging, und an den wunderbaren und aufregenden Geruch — den kräftigen, wohltuenden Ledergeruch der tiefen Polster und den starken, warmen Geruch von Benzin, Öl und Schmierfett, der allen Dingen auf Erden damals eine Lebendigkeit verlieh, die einen ekstatisch erschauern machte.

Deswegen also, nehm' ich an, brachte es mich so auf, daß der Schutzmann von dem Wagen als „dem Ding da“ sprach; damals aber kannte ich freilich diesen Grund noch nicht. Es sah aus, als wolle der Mann uns tatsächlich verhaften, aber da stand Daddy, der auf Pater Dolans Schoß gesessen hatte, auf, und als der Schutzmann den Pater Dolan sah, war er natürlich gleich sehr nett zu uns. Und Mr. Gares redete ihm ein wenig zu und gab ihm etwas Geld, und Daddy machte ein paar Spaße mit ihm, die ihn zum Lachen brachten, und dann zeigte ihm Daddy sein Polizeiabzeichen, fragte ihn, ob er den Big Jake Dietz vom Polizeihauptquartier kenne, und sagte ihm, er sei einer von Jakes besten Freunden, und ich war sehr stolz zu sehen, wie milde der Schutzmann da wurde.

Er riet uns, in den Central Park zu fahren. Dort, sagte er, könnten wir seinetwegen ganz nach unserem verdammten Wohlgefallen herumfahren; er aber würde sich nie in „so ein Ding“ setzen, es könne jeden Augenblick explodieren, und — was wäre dann mit uns? Daddy sagte darauf, er hoffe, dann kämen wir alle in den Himmel, und was mehr wäre, wir hätten unseren eigenen Seelsorger dabei, so gäbe es wohl keine Anstände bei den Einlaßförmlichkeiten, und das belustigte uns sehr, wir lachten, und der Schutzmann lachte auch, und dann fing er an, mit seinem Reitpferd dickzutun, und — mein Gott! Ein Staatsgaul war es schon! — und der Mann sagte auch, er begehre sein Lebtag weiter nichts als ein Pferd, denn so weit brächten es die Erfinder doch'nicht, daß man mit 60 „einem Ding da“ schneller vorwärts käme als mit einem Pferd.

Daddy zog ihn ein bißchen auf und sagte, der Tag käme, an dem man an den Zoo gehen müsse, um ein Pferd zu sehen, und der Polizist sagte, nein, vielmehr müsse man dann in einen Trödlerladen gehen, um „so ein Ding da“ zu sehen, und Daddy sagte: „Unser Fehler, wenn wir Anachronismen sind“. Und der Schutzmann sagte, nun, in solchen Sachen wisse er keinen Bescheid, aber er wünsche uns Glück und hoffe, daß wir alle heil heimkämen.

Damit ritt er davon, und wir fuhren In den Central Park, wir fuhren mit aller möglichen Geschwindigkeit, und als wir gerade einen Hügel hinanfuhren, sah es wahrhaftig so aus, als solle der Schutzmann rechtbehalten, denn der Wagen blieb einfach stecken und wollte nicht weiter. Der junge Chauffeur wurde wild und regte sich auf, er hatte getrunken und dem Wagen wohl zuviel zugemutet; jedenfalls, als wir vor uns auf halber Steigung ein Hansomcab gesehen hatten, hatte er gerufen: „Geben Sie acht, wie wir die überholen!“ Gerade dann, als wir auf gleicher Höhe mit den Leuten in der zweirädrigen Kutsche waren und überholen wollten, fing der Motor an zu keuchen und zu pusten und stand still. Nun, da konnten wir die Fahrgäste im Hansomcab lachen hören, und einer rief etwas zurück über Schildkröte und Hase, und ich war empört und gedemütigt, und unser Fahrer tat mir so leid, und Daddy sagte: „Nehmen Sie sich's nicht zu Herzen, Sohn! Vielleicht, daß Schnellsein nicht immer zum Laufen hilft, aber der Tag des Hasen wird auch einmal tagen % Der junge Mensch aber war so niedergeschlagen, daß er kein Wort hervor* brachte. Er stieg aus und ging ein paarmal langsam um den Wagen herum, und schließlich fand er Worte und fing an, uns zu erklären, wieso es geschehen wäre und daß so etwas in hundert Jahren nicht nochmal vorkommen könnte. Nun ja, es war eben so gekommen, ei freilich, da sehen Sie ja, wieso es so kommen mußte, und wir freilich verstanden kein Wort von der ganzen Erklärung, aber der junge Kerl tat uns so leid, daß wir ihm ohne weiteres recht gaben Dann begann er, am Motor herum-, zustochern, hier drehte er was herum, dort bog er etwas bei, und schließlich ging er an die Kurbel und schleuderte an, daß ich Angst kriegte, er könne sich den Arm auskugeln. Dann kroch er auf dem Rücken unter den Wagen und hämmerte drunten irgendwo herum, und das half auch nichts. Und so kam er wieder zum Vorschein, stand auf, murmelte etwas und ging wieder langsam um den Wagen herum. Schließlich gab er es auf und erklärte, er befürchte, wir müßten aussteigen und eine Droschke nehmen, falls wir anders als zu Fuß heimkommen wollten. Wir stiegen also aus, und der Mechaniker war so beschämt und so außer sich darüber, daß sein Wagen sich so benommen hatte, daß er ihn anpackte und ihn schüttelte wie ein unartiges Kind. Aber das half auch nichts.

Er versuchte es ein letztes Mal, packte die Kurbel und warf den Motor an wie ein Verrückter; er legte sich ins Zeug, bis er vollends erschöpft war. Und als auch das nichts half, rief er plötzlich aus: „Oh, das verdammte Ding!“, trat den Wagen mit aller Kraft in die Gummireifen und brach dann überm Kühler zusammen, schluchzend, als bräche ihm das Herz. Und ich weiß nicht, ob das etwas half, ich weiß auch nicht, wie es kam, aber auf einmal fing der Motor an zu röcheln und zu prusten, und da waren wir also wieder fahrbereit, der junge Mensch mit einem von Ohr zu Ohr klaffenden Grinsen übers ganze Gesicht.

Und so fuhren wir auf den Hügel und auf der anderen Seite hinab, und nun war es wirklich wie geflogen, es war wie Schweben und Gleiten durch die Luft oder so, als hätte man auf einmal Flügel an sich entdeckt, von denen man zuvor nichts gewußt hatte. Es war auch wie etwas schon immer Gekanntes, wie etwas Traumgefundenes, wie ein wahrgewordener , Traum, es war wie Traumflug, und — richtig! — ganz wie etwas Traumerwartetes geschah es, daß wir um eine Kurve gesaust kamen und dasselbe Hansomcab vor uns sahen, das wir zuvor auf halbem Hügel zu überholen gedacht hatten. Und im Augenblick, als ich es wiedersah, wußte ich, daß die Wiederbegegnung unvermeidlich war. Sie schien zwar zu schön, um wahr zu sein — und doch war ich die ganze Zeit fest überzeugt gewesen, daß es genau so kommen müsse. Und so ging's uns allen, wir warfen die Köpfe zurück und lachten schallend heraus und schrien und winkten den Leuten in der Kutsche zu, und als wir an ihnen vorbeisausten, war es, als stünden sie fest angewurzelt auf dem Erdboden, und beim Vorbeifahren wandte sich Daddy und rief zu den Leuten zurück: „Tröstet euch, Freunde! Stehen und warten ist auch zu was nütz!“

Wir ließen sie schnell hinter uns und verloren sie bald, und nun war ringsum nichts mehr außer der Nacht, den brennenden Sternen und der fliederfarbnen Dunkelheit, und — mein Gott! Es war schön! Es war Anfang Mai, die Knospen waren am Platzen, das Laub am Ausdringen, und Busch und Baum sahen so zart-fiedrig aus, und ein kleiner Sichelmond stand am Himmel, und die Luft war so kühl und lieblich mit dem Geruch von jungem Laub und neuem Gras und von Blumen, und es war, als hörte man es schießen und sprießen, und mir war zumute, als hätt' ich nie so was Schönes erlebt, und als ich meinen Vater anhlickte, standen ihm Tränen in den- Augen, und er rief aus: „Herrlichkeit! O Herrlichkeit! Herrlichkeit!“ Und dann begann er mit seiner großartigen Stimme: „Welch ein Werk ist der Mensch! Wie edel sein Verstand, wie unendlich seine Fähigkeiten! Wie behend und bewundernswert seine Gestalt und seine Bewegungen! Wie sehr er Engeln gleicht in seinem Handeln, wie sehr einem Gotte in seinem Denken!“

Und diese Worte waren so schön und ihre Musik so groß, daß sie mir irgendwie zum Weinen nahegingen, und als er zu Ende gekommen war, rief er abermals: „Herrlichkeit!“ und ich sah seine wilde, schöne Stirn in der Dunkelheit, und ich hob die Augen zum Himmel, und da standen die tragischen, groß-mächtigen Sterne, und auf seinem Haupte lag es wie ein Schicksalsschatten, und plötzlich blickte ich ihn an Und wußte, er würde sterben.

Aus: „Vom Tod zum Morgen“. Erzählungen. Rowohlt-Verlag, Stuttgart, Hamburg

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