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Falsche Wege

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Dem Chronisten obliegt es, die Premieren einiger problematischer Stücke anzuzeigen. Beginnen wir mit dem saubersten und harmlosesten. Für das Renaissance-Theater hat das altroutinierte Theaterehepaar Walter und Irma Firner ein Stück zurecht gezimmert. „D ie Gesandtschaft von A s t o r i a” ruht stofflich auf einem historischen Vorfall, der auch in der Literatur bereits mehrfach erwähnt, beziehungsweise ausgebeutet wurde. Zwei Abenteurer (hier sind es amerikanische Studenten) etablieren die Gesandtschaft des nur in ihrer Phantasie existierenden Staates Astoria. Um diesen imaginären Punkt auf der Weltlandkarte entwickelt sich ein hochpolitisches Spiel. Diplomatenintrige, Imperialismus, Weltfinanz. Raubherren mit und ohne Frack versuchen die Herrschaft, zumindest Kontrolle, über das neuentdeckte Ländchen an sich zu reißen. Gelegenheit also au einer großen Satire — über das Spiel der großen Mächte um und mit den „Kleinen”, über Methode und Technik des kalten und heißen Kriegs, über die Regenbogenskala jener politischen Geschäftspraktiken, die vom Zuckerbrot zur Peitsche, von der „Kulturpropaganda” und Einschüchterung bis zum offenen Terror führen… Die hier erstellte große und weiträumige Plattform wird aber nur zu leichten Lustspieleffekten verwendet.

Dieses beseh lene Stückchen steht seiner Gesittung nach hoch über dem parfümierten Mist, den das „Kleine Haus der Josefstadt” und das Akademietheater Wien vorsetzen. Der Doppelskandal fordert Erwägung. Das „K leine Haus der Josefstadt” wurde gegründet, um nach der Verengung des geistigen Horizonts im vergangenen Jahrzehnt Raum, Platz und Gelegenheit zu schaffen für junge Autoren und hier unbekannte und problemreiche Stücke der modernen Weltliteratur. Experimentierbühne, „S t u d i o” also — wie auch der erste Name des Kleinen Hauses lautete. — Im Verfallsgang eines Jahres ist diese Bühne (endgültig?) beim Amüsierbetrieb billigster Sorte, beim Tingel-Tangel gelandet. Symptom für Wien? Das glänzende Personal der Josefstadt wird also dazu verwendet, den erotisierenden Komplex „Es schlägt zwölf, Herr D o k t o r” herauszubringen. Der motivische Einfall ist banal, doch voll innerer Entfaltungsmöglichkeiten. Ein junger stellungsloser Arzt verdient sich sein Brot als Verkäufer in einem Modesalon. Im Traum erlebt er mehr oder weniger interessante Begegnungen mit den zu einem kurzen Scheinleben erwachten Modellen im Schaufenster. — Puppen, Marionetten, Schatten verborgener Wünsche, zum Leben erwacht — was für ein schimmerndes Netz von Geist, Ironie, Scherz, Satire mit und ohne tiefere Bedeutung hat sich seit hundert Jahren, seit der Romantik, an diesen Stoff gewandt, ihn gewandelt und geformt — zum philosophischen Essay, zur Tragödie, Komödie und Groteske. Der Autor (Hans Lang) aber weiß nichts anderes daraus zu fertigen, als einige Lümmeleien, die sich nicht über den Gesichtskreis und die Phantasie halbwüchsiger Jungen erheben. Auf dieser Bühne wurde einst immerhin Anouilhs „Orpheus und Eurydike” gespielt.

Was die Josefstadt im „Kleinen Haus” sündigt, sündigt die Burg im größeren, im Akademietheäter. Für Jacques Devals degoutantes Stück „Die Frau deiner Jugend” werden etliche der besten Schauspieler aufgeboten, die die Bühne im deutschsprachigen Mitteleuropa zur Verfügung hat. Keine künstlerische Perfektion — auch nicht das Spiel eines Werner Krauß und einer Käthe Dorsch — vermag die Ansetzung dieses Stücks zu rechtfertigen. Hier regieren Dekadenz, Nihilismus und Zynismus (der sich hier noch dazu biedermännisch-romantisch verkleidet). Frau Josse will mit Hilfe ihres Geliebten Maurice ihren Gatten beseitigen. Durch Gift, durch eine Tasse Tee. Die Vorbereitung dieses Mordes bildet Kern und Hauptinhalt des Stückes. Die Pikanterie besteht nun darin, daß das ungleichseitige Dreieck (Herr und Frau Josse, Maurice) Menschen als Spitzen hat, die dermaßen verfangen sind in kleinbürgerlicher Enge des Verstandes und des Sentiments, daß sich aus ihren Komplikationen jeweils tragikomische Effekte ergeben. Puppen ihrer Eitelkeit und Ängstlichkeit, ihrer Hysterie und Borniertheit, taumeln diese Personen durch das Zimmer, das in seiner tristen Korrektheit, in seiner falschen „Aufgeräumtheit” allerdings einen sehr stilechten Rahmen für diese Persiflage eines „bürgerlichen” Lebens abgibt. Daß der Mord am Ende des Stückes nicht vollzogen wird, tut nichts zur Sache. Der Autor hat so lange mit ihm gespielt, als ihm zur Erstellung der notwendigen Länge des Dramas erforderlich erschien.

Eine andere Welt tut sich in der Scala auf. Man mag über die politische Tendenz und Problematik des Gorki-Stückes „Die Feinde” durchaus anderer Meinung als die Heraussteller dieses Dramas sein, wird aber auf jeden Fall zugeben müssen, daß hier ein großes Werk vorliegt, in einer vorzüglichen Aufführung (Regie Wolfgang Heinz), unter sorgfältigster und liebevollster Betreuung aller Szenen und Personen. Rußland 1904, am Vorabend der Revolution von 1905 (das Stück selbst ist 1906 geschrieben). Ein Konflikt zwischen einer Unternehmerfamilie und der Arbeiterschaft ihrer Fabrik wird von Gorki zu einer packenden Konfrontation einer „alten” und einer „neuen Welt” ausgemalt. Der Mythos des Proletariats, als Heilisträger eines besseren Äons — noch schillernd in den taufrischen Farben des utopischen Sozialismus älterer Prägung: Lewschin, Grekow — die Führer der Arbeiter, erfüllt vom Glauben an ihre Sendung. Ihnen gegenüber, in breiter Farbenskala abschattend, die Repräsentanten der alten Gesellschaft. Starre Vertreter ihres Prinzips (besonders die Frauen), Militaristen, Bürokraten, dann humanitäre Liberale, Künstlernaturen, Salonsozialisten. Und eine junge Schwärmerin Nadja (sah Alexandra Kollontaj vor vierzig Jahren so aus?). Zwischen und vielleicht über allen — Jakob Bardin; ein Wanderer zwischen den beiden Welten, seltsamer „Kostgänger Gottes”, eine Gestalt von Dostojewskischer Tiefe, von Paryla in erschütternder Zwiespältigkeit gestaltet. — Ein reicher Abend. Echtes, starkes Theater.

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