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FAMILIE AUF DER FLUCHT

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enn wir auch heuer am Heiligen Abend das Weihnachtsevangelium wieder aufschlagen, um die seit Kindheitstagen wohlvertrauten Worte zu hören: „In jenen Tagen erging vom Kaiser Augustus ein Befehl, das ganze Reich aufzuzeichnen“, sollten wir in einer besinnlichen Betrachtung noch das 2. Kapitel von Matthäus anfügen und in unseren Gedanken neben die Heilige Familie an der Krippe auch die Heilige Familie auf der Flucht stellen. Bei Matthäus lesen wir: „Herodes wird nämlich das Kind suchen, um es zu töten — da stand er (nämlich Josef) auf, nahm das Kind und seine Mutter noch in der Nacht und zog nach Aegypten.“ Der große Herodes war um seine Macht besorgt und hatte eine Säuberung — diesmal unter Kleinkindern als potentiellen Gegnern — angeordnet („Er schickte Leute aus und ließ in Bethlehem und in der Umgebung alle Knäblein bis zu zwei Jahren ermorden“; Matth. 2, 16). Die Pläne Gottes aber können durch das Konzept der Diktatoren nicht vereitelt werden. Die arme Familie, die für eine kleine Weile im Lichtglanz der Engel auf dem Hirtenfelde stand, sieht sich gezwungen, den Machtbereich des Herodes zu verlassen, die Grenze nach Süden zu überqueren, einen Karawanenweg einzuschlagen, der wenigstens durch keinen Eisernen Vorhang abgesperrt war. Die Flucht war geglückt, aber das Schicksal der Heimatlosigkeit, das sie dafür eintauschten, ist zu allen Zeiten bitter genug. Die idyllischen Bilder von der Heiligen Familie auf der Flucht, die wir in verschiedenster Art der Nazarener und Nichtnazarener kenne, unterlassen es in der Regel, die Trostlosigkeit und Hilflosigkeit zu zeigen, denen eine Familie mit einem Kleinkind auch damals ausgesetzt war.

Die Ereignisse der letzten zwei Monate lassen heuer den Blick nicht so ruhig und geborgen auf der Krippe oder auf den Lichtern des Christbaumes ruhen; er wird immer wieder abgleiten auf*das Bild von der Heiligen Familie auf der Flucht. Wer nicht gefühllos und roh geworden ist, muß während der heurigen Weihnachten an die denken, welche vielleicht auch in der Weihnachtszeit sich anschicken, die Heimat zu verlassen und die Unsicherheit der Heimatlosigkeit zu wählen, weil ein Herodes der Gegenwart vor keinem Mittel zurückscheut, um seine Macht zu sichern. — Es wird wohl auch in Oesterreich manche geben, die finden, daß die Dinge, welche um uns geschehen, die bürgerliche Behaglichkeit und Ruhe der Feiertage, so wie wir in den letzten Jahren Weihnachten feiern konnten, empfindlich stören. Der größte Teil der Oesterreicher aber denkt anders. Es ist für uns alle ein Trost, daß gerade in diesen Wochen so viele mitgeholfen haben, die Not der Flüchtlinge in wirksamer Weise lindern zu helfen. Vielleicht wird gerade das heurige Weihnachtsfest — trotz allem — für viele in unserem Lande einen besonderen Glanz haben, weil sie an der Weihnachtskrippe die Worte in ihrem Herzen vernehmen dürfen: „Was ihr einem dieser Meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr an Mir getan“ (Matth. 25, 40). Und wenn nach unserem „Stille Nacht, heilige Nacht“ in vielen Familien, Gasthöfen Herbergen und Heimen landauf und landab Weihnachtslieder in ungarischer Sprache gesungen werden, so werden wir heuer den anderen Satz des Weihnachtsevangeliums mit größerem Verständnis aufnehmen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind.“

Der Wiener Erzbischof möchte dnzu bewegten Herzens allen danken, die in den letzten Wochen in vorbildlicher und selbstloser Zusammenarbeit, bis an die Grenze ihrer Kräfte, mitgeholfen haben, um die Fülle der Aufgaben zu bewältigen, die jeder Tag neu stellte. Ich hoffe, daß sich Oesterreich ein wenig den Segen Gottes verdient hat durch die Werke der Nächstenliebe, zu denen diesmal fast die ganze Stadt Wien ohne Säumen aufgestanden ist. Ich bin überzeugt, daß diese Bereitschaft anhalten wird, solange der Notstand dauert. Das mit den Flüchtlingen gemeinsam gefeierte Weihnachtsfest sei uns allen ein Ansporn, auf daß der Eifer nicht erlahme.

„Die Familie auf der Flucht“ ist, nach den friedlichen Weihnachten der vergangenen Jahre, das Zeichen, unter dem unser heuriges Weihnachtsfest steht. Sind wir übrigens nicht alle — ohne wirklichen und echten Frieden — seit dem Jahre 1945 noch immer auf der Flucht, ohne zu wissen wohin? In den Schreckenstagen der letzten Kriegsmonate haben wir die große Flucht vom Osten nach dem Westen schon einmal gesehen. Unmittelbar nach dem Krieg setzte die Flucht aus den Konzentrationslagern ein, begann die Millionenflucht aus Jugoslawien, Siebenbürgen, Tschechoslowakei, Polen, Ostdeutschland, Rußland. Und nach Jahren kamen die Gefangenen aus Rußland, wie auf der Flucht vor dem Grauen der Gefangenschaft. Ohne Unterbrechung dauert seit 1945 die Flucht aus den Bereichen der Diktatur. Die ganze Menschheit aber ist auf der Flucht vor dem kalten Kriege, vor den Gefahren der Vernichtungswaffen, vor den Katastrophen eines modernen Krieges, der züngelnd da und dort sein Haupt erhebt. Sie flieht vor den letzten Konsequenzen eines marxistischen Sozialismus und Totalitarismus; sie flieht sogar schon vor dem Materialismus (vgl. z. B. die Schrift des sozialistischen Gewerkschaftssekretärs Fritz Klenner, „Das Unbehagen ins der Demokratie“, Wien 1956, S. 19: „Der Materialismus als Weltanschauung ist zu einer furchtbaren Bedrohung des freien Menschentums entartet“). Man flieht vor der Trostlosigkeit einer nihilistischen Philosophie (vgl. Jaspers, „Die geistige Situation der Zeit“, 1932: „Eine nie dagewesene Oede des Daseins wird fühlbar, gegen die der schärfste antike Unglaube geborgen war in der Gestaltenfülle einer nicht verlassenen mystischen Wirklichkeit .. . Was kein Gott in den Jahrtausenden für den Menschen getan, macht dieser durch sich selbst“). Man flieht vor dem Unheil, das nichtdi.e Technik, sondern der Mensch mit seinem bösen Herzen angerichtet hat. Es ist das Unheil der falschen Propheten, die in Schafspelzen aufgetreten sind, innerlich aber reißende Wölfe waren. Es ist eine Flucht des Bruders vor dem Bruder; 'vor dem, der sich selbst zu Gott macht und in der Verblendung seine Macht für Allmacht hält. Die hunderttausend Flüchtlinge aus Ungarn sind nicht nur eine laute Anklage gegen das System, das sie gezwungen hat, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Sie sind auch ein eindringlicher Appell zur Besinnung, Ausschau zu halten nach der Ursache dieser Flucht; wie man sie in Heimat und Frieden wandeln kann.

Es ist heute kein Geheimnis mehr, daß der Abfall von Gott, der Kampf gegen die Religion in auffallender Weise zusammenfällt mit der Ausbreitung der Unruhe und Friedlosigkeit in der Welt, mit den Konzentrationslagern und ien ungeheuren Arbeits- oder Sklavenlagern, mit den Massendeportationen, mit der zunehmenden Angst und Ruhelosigkeit. Wenn Religion „Uranlage der Menschenseele“ (R. Otto) ist, so muß die Zerstörung dieser Uranlage zu einer Verschlechterung des Menschen in individueller und sozialer Hinsicht führen. Ein hellsichtiger Prophet des vorigen Jahrhunderts hat diesen seiner Uranlage beraubten Menschen als tollen oder tollwütigen Menschen beschrieben: „Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ,Ich suche Gottl Ich suche Gott!' ... Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken: .Wohin ist Gott?' rief er. ,Ich will es euch sagen. Wir haben ihn getötet — ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! ... Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? ... Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? ... Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unserem Messer verblutet' “ (Nietzsche, „Fröhliche Wissenschaft“, Aphorismus 125, 4. Teil).

Schlicht und einfach wird die Wurzel des Unheils bloßgelegt und der Weg zum Heile aufgezeigt im Evangelium der 3. Weihnachtsmesse: „Und das Licht leuchtet in der Finsternis; aber die Finsternis hat es nicht begriffen ... Er war in der Welt und die Welt ist durch Ihn gemacht worden. Allein die Welt hat Ihn nicht erkannt. Er kam in Sein Eigentum, doch die Seinen nahmen Ihn nicht auf. Allen aber, die Ihn aufnahmen, gab Er Macht, Kinder Gottes zu werden“ (Joh. 1, 12).

Kinder Gottes aber bekennen sich zum Reiche Gottes. Dieses Reich kennt keinen Rassen- und keinen Nationalitätenstolz, keinen Haß und keine Machtkämpfe; denn es ist ein universales Reich der Wahrheit und des Lebens, ein Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens. Dieses Reich hat seinen Anfang genommen damals, als der Engel die Hirten nach Bethlehem an die Krippe des Messias verwies, Gott lobte und sang: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind.

Die mit blutigen Lettern geschriebene Geschichte unserer Generation müßte allein schon genügen, um aus den bitteren Erfahrungen nach dem Licht Ausschau zu halten, welches in die Finsternis auch unserer Tage leuchtet.

Was Petrus (Apg. 4, 11) später als Gefangener vor dem Hohen Rate sprach, könnte er heute in Budapest, Belgrad, Moskau, aber auch vor den Städten des Westens mit gleicher Aktualität wiederholen: „Er (Jesus) ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wird und der nun zum Eckstein geworden ist. In keinem anderen ist Heil. Denn es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir das Heil erlangen sollen.“

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