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Feier einer hollndischen Stadt

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In Holland müssen die Kinder in der Sdiule genau so viel lernen, wie in allen anderen Ländern, aber in keinem Lande der Welt müssen sie sich so viele Jahreszahlen einpauken. Der Freiheitskrieg gegen die Spanier, der „tachtigjarige oorlog“, 1568 bis 1648, liefert allein 80 Jahreszahlen und das Zehnfache an Ereignissen, die jedes Kind einmal gekannt hat. Aber was man davon auch vergißt, so gibt es doch keinen, der je die Belagerung H a a r 1 e m s aus seinem Gedächtnis entwischen läßt. Wenn er auch nicht mehr weiß, wann es eigentlich gewesen ist, so kennt er doch Ripperda, den Kommandanten aus Friesland, Pieter Kies, den sturen Bürgermeister, und Kenau Hasselaer, welcher die Spanier mit kochendem öl begoß. Die mittelalterlich gotische Sint Bavo muß das alles einmal gesehen haben. Zu ihren Füßen liegt Haarlem wie eine lange, rote Schnalle an einer grünen Weste. Wer nach Norden schaut, sieht links von der Stadt die Dünen, die blonden Dünen mit dem wogenden Sandhelm, und hinter diesen Dünen liegt das Meer, die Nordsee.

Rechts von der Stadt breitet sich das grüne Holland aus, eine Ebene von Weiden,Wasser, Mühlen, Kühen und Bauernhöfen. Gottes Sdilaflied für unruhige Herzen. Wer einmal an einem Sommerabend den Duft dieser Weiden und dieses Wassers gerodien hat, der weiß, daß er immer wieder unter diesen Himmel voll weißer Wolken zurückkehren muß.

Das festliche Rotweißblau flattert jetzt über der Stadt aus Haarlems höchstem Turm. Denn 700 Jahre ist es her, daß Graf Willem II. den Bürgern gnädig die Stadtrechte schenkte. Es ist ein ehrwürdiges, gelbes Pergament mit geheimnisvollen Budistaben und schweren Siegeln. „Weiter habe ich meinen Untertanen diese Freiheit gegeben: wäre es, daß jemand ...“ und dann kommt ein langer Satz, den kein normaler Mensch mehr entwirren kann, aber trotzdem steckt man ausgelassen die dreifarbige Fahne der Freiheit zum höchsten Turm heraus, denn in diesen 700 Jahren ist die Freiheit immer wieder gesdiändet und immer wieder hergestellt worden. Wer kennt nicht die entsetzliche Geschichte von den Kämpfen des Käse- und Brotvolkes? Der Schultheiß Klaas van Ruyven war in Stücke geschnitten und die Scheiben waren seiner Frau in einem Korb geschickt worden mit einem Zettel: O vrouwke van Ruyven aan deze botjes kun je kluyven (an diesen Knochen kannst du knabbern)

„Sie kommen aus Holland? — Ach, die gute Butter, die Zigarren, die Tulpen.“ Meine lieben Freunde, sagt das nicht mehr. Ich will euch etwas anderes erzählen. Aber heute von Haarlem, weil ich den ganzen Tag durdi die Straßen gehen muß und bei jedem Schritt daran erinnert werde, daß wir seit 700 Jahren Bürger der holländischesten Stadt Hollands sind. Denn das ist Haarlem ohne jeden Zweifel. Es ist die Stadt der Maler. Jan van Scorel, Dirk Bouts, Geertgen tot Sint Jans eröffnen die lange Reihe. Im Wiener Museum kann sich jeder Haarlemer stolz auf die Brust schlagen, auch wenn er farbenblind ist und keinen Tünchpinsel von einer Palette unterscheiden kann. Später kommen Adrean Brouwer, Jan Steen, Frans Hals. Leider müssen wir weit jenseits unserer Landesgrenzen das bewundern, was im eigenen Lande entstand. Diese drei haben der Welt etwas anderes gezeigt als den ewigen Kehrreim von Butter, Zigarren und Tulpen.

Dann ist Haarlem die Stadt des Bischofs. Als V'eine Ministranten durften wir in der .Kathedrale seinen Stab tragen und straudiel-ten fast, wenn wir die bischöflichen Gewänder vom Altar zu seinem Thron trugen. Bei einem vollen Ablaß drang die Stimme des Vorlesers so drohend durch die Kirche und mächtig imponierend war der Anfang: „Joannes door de genade van God en de gunst van de Apostolisdie Stoel: bisschop van de Heilige Haarlemse Kerk“ .. Die drei letzten daktylischen Worte umfassen die erste Stufe von Gottes Plan mit der Erde. Im Himmel sitzt Gott der Vater, in Rom der Papst und in Haarlem der Bischof der Heilige Haarlemse Kerk. Die Zeiten sind vorüber, in denen Katholiken und Protestanten einander mit Knüppeln und Säbeln zu Leibe wollten. Wo früher Karmeliter und Augustiner ihre Klöster hatten, singt jetzt an den Samstagabenden die Heilsarmee inmitten des kichernden Jungvolkes. Durch die Reformation haben wir die wundervolle Sint Bavo verloren, aber deshalb haben die gläubigen Söhne der Heilige Haarlemse Kerk den Mut nicht verloren. Sie scheinen eine große Vorliebe für Wallfahrten zu haben. Einmal an Jahr, in kalter Winternacht, marschieren Haarlems katholische Männer zum Mirakelsakrament nach Amsterdam. Sie laufen dann singend, betend und fluchend im eiskalten Nordwind, der sich tückisch auf das flache Polderland stürzt und die frommen Litaneien vom Munde reißt. Oder sie gehen nach Heilöo, zu Maria ter Nood, wo aueb die Runxputte ist. Willebrord, der Lehrling von Bonifaz, schlug da in maßlosem Durst auf die dürren Dünen und gleich entquoll ihnen ein Brunnen mit herrlich frischem Wasser. Es ist gerade der Reiz der westlichen Orte Hollands, daß dort Katholiken und Protestanten zusammen dem Leben einen sinnvollen Inhalt geben, ohne sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen.

Ja, mit den Tulpen ist es so eine Sache. Sie sind es, die Haarlem den verdienten Namen „Blumenstadt“ geben. Wenn die Kälte vorüber ist, dauert es nidit lange, bis die „bloemenventers“ mit ihren Wagen erscheinen. Heiser und rauh schreien sie, bis alle Tulpen und Narzissen und später im Jahr die Gladiolen ihren Weg in die Wohnzimmer gefunden haben. Es gibt auch kein Fenster, in dem nicht das ganze Jahr über irgendwelche Blumen stehen, zur höchsten Empörung anarchistischer Dichter, die dieses als höchste Spießbürgerlichkeit bezeichnen. Um Ostern, wenn die Felder in vollster Blüte stehen, ziehen an einem bestimmten Sonntag die Wandervereine aus, um den „bollenmars“ zu machen. Morgens marsdiieren sie mit Fahnen und Trommeln ab, abends kehren sie heim, müde, mit Blasen an den Zehen, aber freudig, es geschafft zu haben.

Nach diesen langen sieben Jahrhunderten hatte Haarlem wirklich ein Recht auf eine ganze Festwoche. Das alte Glockenspiel, das dk Kreuzfahrer aus Damiate in Ägypten mitgebracht haben sollen, kriegte fast das Schlucken, als es die offizielle Festwoche feierlich einläuten durfte. Die Stadt war mit Fahnen, Blumen und kolossalen Ehrenpforten geschmückt. Auf dem Houtplein gab es sogar eine richtige Riesenfontaine, die abends mit grellem, farbigem Sdieinwerferlicht angestrahlt wurde. In dicken Schwärmen standen die Haarlemer davor und starrten ganz verblüfft dieses Wunder des herunterrauschenden Wasser an. Väter hoben ihre Kinder auf die Schultern. Natürlich gab es auch Globetrotter, 'die geringschätzig über 3en erbärmlich schwachen Strahl Wasser lächelten. Sie konnten nicht verstehen, daß für den, der täglich viele Quadratkilometer Wasser sieht, dieser hoch in die Luft spritzende Strahl ein Erlebnis ist. Auf der Kirmes setzten die Haarlemer ihre sauer verdienten Cents in Heringen oder Karusselfahrten um oder ließen sich in wacklige Zelte mit fremdartigen Aufschriften locken, in denen Fakire lebendge Mäuse verschlangen oder Damen von 500 Pfund zu besichtigen waren. Da waren Leute, die auf den Händen liefen und sich aus einem Knoten eiserner Ketten herauszauberten. Für 50 Cents — und was ist das, wenn man die Zukunft wissen will? — erzählten braune Wahrsagerinnen jedem verliebten Paar, daß sie sieben Kinder bekommen würden, mehr Töchter als Söhne, und daß ihnen nach zwei schweren Jahren das Glüdc. für immer lächeln würde. An allen Gassenecken standen lebensmüde Artisten und quetschten aus funkelnden Schifferklavieren ihre sdiwere Melancholie. Tangos aus Argentinien, Walzer aus Wien, Blues aus Amerika, dieses alles in der Anegang, der Spekstraat und der Barteljorisstraat von Haarlem. Es fing schon an bei der Hout. Die Hout ist Haarlems Wald. Wenn man von 'dort einen Spaziergang durch die Stadt machte, konnte man einen großen Sack voll Cents mitnehmen, am Ende war man alles losgeworden an Tausendkünstler, Akrobaten und Feuerfresser.

Jeden Abend bliesen sich 14 Blechmusikkapellen die Köpfe rot. Wie gern sah ich den tambour maitre in kriegerischer Friedlichkeit sein schmetterndes Bataillon anführen. Wild schlägt mir das Herz, wenn plötzlich die tapferen Bläser an der Ecke erscheinen. Die Fensterscheiben biegen sich ängstlich vor den gewaltigen Posaunen nach innen. Und dahinter „host“ die Jugend Arm in Arm. Ein Professor der Geschichte hielt einmal eine Vorlesung, in der er bedauerte, daß Holland keinen besseren Feststil hat als das stillose „hossen“. Er beschrieb es wie folgt: Unästhetische Bewegungen mit dem Körper machen und zu gleicher Zeit unbegreifliche Laute ausstoßen. Aber als die Blechmusiker Haarlems wie eine Parade von Gottes auserlesenen Gerichtsengeln zwischen den großen und kleinen Sündern marschierten, dachte keiner seiner Studenten daran, einen besseren öffentlichen Feststil zu schaffen.

Dennoch war daran wirklich kein Mangel. Auf dem Grote Markt, vor dem historischen Rathaus, war eine Freiluftbühne aufgerichtet. Dreihundert Haarlemer, als Spanier vermummt, versuchten die Wälle zu erstürmen, aber Wigbold Ripperda, auf derselben Stelle wie vor so vielen Jahren, beschwor seine Männer, das nicht so ohne weiteres zuzulassen und drauf loszuhauen. Kenau Hasselaer eilte zu seinen Kochtöpfen mit stinkendem öl, um damit die Teufelsbrut aus Spanien auf den Brandleitern zu begießen.

Am vorletzten Tag der Festlichkeiten schlängelte sich ein bunter, historischer Aufzug durch die Straßen. Alles, was Haarlem an großen und edlen Personen hervorgebracht hatte, war so liebenswürdig, sich der modernen Bürgerschaft zu zeigen. Da fuhr auch Loutje Coster, der Erfinder der Buchdruckerkunst, auf einem Wagen, umgeben von mittelalterlich gekleideten Knaben, die. sein Lob in lateinischen Liedern sangen, und wenn ein Anhänger der ketzerischen Gutenberg-Lehre das gesehen hätte, so würde er demütig auf die Knie gesunken sein und um Verzeihung gefleht haben. Ich selbst stand einmal vor dem Gutenberg-Denkmal in Wien und spuckte da voller Verachtung auf den Boden, denn in der Hout ist jetzt noch die Stelle zu sehen, wo der erste Buchstabe angefertigt wurde. Mein Vater hat es mir einmal erklärt, und ich habe es, älter geworden, meiner ersten Liebe auf einem Spaziergang durch die Hout erzählt, weil man eben nicht .weiß, was man seiner ersten Liebe alles am ersten Abend sagen muß.

Aber wir in Haarlem sind wirklich nicht so engherzig, um nicht auch den Ausländern die ihnen gebührende Ehre zu gönnen. So fuhr der zehnjährige Mozart, der 1766 die Orgel in der Sint Bavo spielte, mit. Der kleine Junge saß mit einer Würde da, als ob er seit seiner Wiege nichts anderes gemacht hätte, als Opern und Sonaten zu komponieren. An der Ecke der Raaks stand seine stolze Mutter und hier fiel er aus seiner Rolle. Er brachte seine Hände an den Mund und wollte „Daag“ rufen, aber auf einmal überlegte er es sich und improvisierte träumerisch weiter auf den imaginären Tasten der Orgel.

Sobald das Sesam-Wort an Österreichs Grenzen gesprochen ist, dann klettert einmal von euren verschneiten Gipfeln herunter und kommt nach Holland!

Komm dann mit mir, wir gehen zusammen längs der Ringdyk. Du wirst dann den majestätischen Wolkcnhimmel über Haarlems Silhouette sehen. Ruysdaal hat das einst gemalt, und die Angler, die da den lieben langen Tag auf fette Hechte lauern, würden es auch sehen, wenn sie nicht immer nur auf ihre Angeln1 starren würden. Oder wir gehen zum Bakenesser Turm, der so alt ist, daß du ihn jeden Abend müde murmeln hören kannst: werde ich heute Nacht zusammenstürzen oder morgen? Oder wir gehen zum Proveniershuis, wo Pieter Langendyk in schwarzer Armut gestorben ist. Wer das war? Jeder Schüler kann es dir erzählen. Er war ein Dichter aus dem 18. Jahrhundert. Das ist dann gleich meine kleine Rache, denn in Wien schleppt man uns auch zu den Häusern sämtlicher Berühmtheiten. Oder wir gehen nach Spaarndam. Vielleicht gibt es da noch geräucherten Aal. Aber nein, du bist ja zu deiner Bildung auf der Reise, dann gehen wir, weißt du... Ach, es gibt so viel zu sehen in Haarlem!

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