Fern sein von dem, was nahe

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Die Albanerin Ornela Vorpsi beschreibt in ihrem neuen Roman eine schmerzliche Reise zurück zu ihren Wurzeln.

Börek in einem kleinen Laden in Sarajevo. Diese Speise der Kindheit ruft alles wieder in Erinnerung: die Schritte der Großmutter, die wunderbar duftenden Kakipflaumen und das starke Sonnenlicht Tiranas. Vor vielen Jahren ist die Ich-Erzählerin dieses Romans aus Albanien nach Paris ausgewandert. Trotzdem kann sie ihre Vergangenheit nicht zur Gänze abschütteln oder gar vergessen, vor allem weil eine Reise nach Sarajevo die Matrix des Gewesenen erneut an neuralgischen Punkten belichtet.

Vieles in Ornela Vorpsis schmalem Büchlein "Die Hand, die man nicht beißt" scheint autobiografisch motiviert zu sein, das Leben einer Emigrantin, die "eine richtige Ausländerin geworden" ist: "Wenn man dermaßen ausländisch ist, betrachtet man das Ganze anders als einer, der drinnen ist." Die 1968 in Tirana geborene Künstlerin lebt wie ihre Ich-Erzählerin nach einem Studium in Mailand zurzeit in Paris. Bereits vor sechs Jahren ist Vorpsis erster Roman "Das ewige Leben der Albaner" in Frankreich erschienen. Hier geht es um das Schicksal eines Mädchens, dessen Familie sich im Widerstand zum politischen Regime befindet und dem sie eine Stimme fernab der landesüblichen Propagandaliteratur schenkt.

Westen und Osten

Auch ihr neues Buch nimmt wieder die Fährten dieser schwierigen Vergangenheit auf. Doch jetzt lenkt Vorpsi den Fokus auf den Analyseblick von außen. Da gibt es Mirsad in Sarajevo, der schon fünf Monate nicht mehr sein Haus verlassen hat und sogar die Nahrung verweigert: "Mirsad ist trübselig, weil der Westen die Wahrheit von unsereiner aus dem Osten - aus dem ehemaligen Osten - nicht begreift." Obwohl die Ich-Erzählerin die Reise scheut, macht sie sich dennoch auf den Weg, um ihm zu helfen. Zunächst fühlt sie sich dort wohl, aufgefangen von der Herzlichkeit der Gastgeber. Doch bald schon gerät dieser Aufenthalt zu einer vielschichtigen Spurensuche nach der eigenen Identität. Denn die Ich-Erzählerin trifft in Sarajevo immer wieder auf Landsleute:

"Für einen kurzen Augenblick zogen wir unsere Völker hinter uns her wie eine schwarze Rauchwolke." Schritt für Schritt holen sie Erinnerungen an ihre Kindheit in Albanien ein. "Der Geruch des Balkans weckt die Vergangenheit, und die tut weh. Denn da sind Sehnsucht, Liebe, Groll, Trostlosigkeit, Ohnmacht, Ferne und Nähe."

Heimat und Fremde

Die Dualität von Heimat und Fremde, das Zugehörigkeitsgefühl zum Balkan, von dem man weggegangen ist, und die heftige Affinität zum Westen lässt Vorpsi am Beispiel ihrer Ich-Erzählerin als drückenden Knoten spürbar werden. Sie mündet in das überhebliche Gefühl, es geschafft zu haben, weil sie sich nicht vom Kapitalismus erdrücken hat lassen. Stattdessen wird die Idee, nicht in Sarajevo bleiben zu können, immer stärker präsent, denn ihr wird plötzlich klar, dass sie nur durch den Abstand überleben kann.

Vorpsi konturiert hier unaufdringlich und klar in poetischen Farben die Befindlichkeit einer Emigrantin im Panoptikum des Gefühls, dass ihr nichts lieber ist, als fern von allem zu sein, was ihr nahe ist. Auf der Klaviatur dieser seelischen Zerrissenheit entsteht das berührende Bemühen um ein neues kosmopolitisches Selbstbewusstsein.

Die Hand, die man nicht beißt

Roman von Ornela Vorpsi Übersetzt von Karin Krieger

Zsolnay 2010. 112 S., geb., € 13,30

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