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Fernando Tambronis letzte Tage

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Die Römer haben die Nachricht vom Wiederauftauchen des Ungeheuers von Loch Ness mit Erleichterung zur Kenntnis genommen; die sommerliche Seeschlange ermuntert mehr als die oft zerzauste Friedenstaube zur Rückkehr zum ungestörten Badeleben. Überdies hat das Oberhaupt der „Spiritualisten“ vom Montblanc, Bruder Emman, zugegeben, daß ihm ein Rechenfehler unterlaufen sei: am 14. Juli um 13.45 Uhr sei der Weltuntergang nicht eingetreten, weil er sich im Jahr geirrt habe. In Palermo, Catania und Reggio Emilia sind die Toten beerdigt; Italiens KP-Chef Palmiro Togliatti hat dem Begräbnis der Opfer der jüngsten Unruhen in Reggio beigewohnt. Eine Zeitung bringt ein Photo: es zeigt Togliatti mit lachendem Gesicht. Aber es handelt sich um ein reaktionäres Blatt. *

Alles ist fast wie vorher. „Die Situation ist normalisiert“, lautet eine Schlagzeile. Den Römern steckt noch der Schreck über die Krawalle der letzten Woche in allen Gliedern. Plötzlich schien die Zeitenuhr wieder um zwölf Jahre zurückgedreht. Wieder das tolle Karussell der rotlackierten Polizeijeeps auf den Plätzen, die weißen Dampfwölkchen der Tränengasbomben, die schreienden Chöre der Demonstranten, die Attacke der berittenen Karabinieri unter dem Befehl zweier vergötterter Sporthelden, der Brüder d'Inzeo, Sieger bei allen internationalen Springturnieren, Regen von Steinen und Hieben, Klagen der Verwundeten, die Sirenen des Roten Kreuzes. Wieder konnte man sich die bange Frage vorlegen, ob vielleicht für die Kommunisten die „Stunde X“ gekommen sei und ein hypothetischer „Plan K“ abrollen sollte.

Da man an so vielen anderen neuralgischen Punkten der Weltpolitik Moskaus Pferdefuß erkennen will, liegt es auch nahe, in den Unruhen in Italien ein bolschewistisches Komplott zu sehen. Italiens Regierungschef Ferdinando Tam-broni hat in diesen Tagen öfter von einer Verschwörung auf internationaler Ebene gesprochen und in der Reise nach Moskau der Nummer 1 des^westlichen Kommunismus, des italienischen KP-Führers, einen direkten Zusammenhang mit der aufrührerischen Bewegung zu erblicken geglaubt. Wer aber die innerpolitische Situation vor und nach den Wirren von Genua, Rom, Palermo, Reggio Emilia und Catania vergleicht, dem mögen Zweifel an einem solchen Komplott kommen. Man möchte meinen, daß ein kluger kommunistischer Politiker — der Togliatti zweifellos ist — gerade jetzt kein Interesse daran haben dürfte, den Demokraten einen Schrecken einzujagen. Das Zusammengehen mit den Neo-faschisten des Movimento Sociale Italiano ist für Tambroni vielleicht notwendig, auf jeden Fall aber der christlich-demokratischen Regierungspartei abträglich. Zum erstenmal sah sie sich mit den Neofaschisten isoliert, zum erstenmal hatte sie alle demokratischen Parteien gegen sich. Den Kommunisten war es gelungen, die gesamte Linke unter dem Banner des Antifaschismus und der Resistance um sich zu scharen. Zum erstenmal seit ihrer Ausbootung aus der Regierung im Jahre 1947 konnte sie hoffen, aus dem magischen Kreis der Isolierung herauszukommen.

Togliatti, der sich seit Jahren bemüht, die italienische Demokratie einzuschläfern, war zum Zeitpunkt der Unruhen Gast der Herren des Kremls. Wahrscheinlich hat er mit ihnen nicht die Strategie der italienischen Revolution beraten. Wahrscheinlich sind ihm die Krakeeler zu Hause einfach durchgegangen. Denn als er in Italien eintraf, wurde der Aufruhr abgeblasen. Doch der Effekt war für die Kommunisten schon verheerend. Die latente Gefahr, die der italienischen Demokratie seitens der mächtigen kommunistischen Organisation droht, war jedermann ins Auge gesprungen. Die demokratischen Parteien haben plötzlich, nach jahrelanger Zänkerei, eine gewisse „Konvergenz der Meinungen und Absichten“ festgestellt. Mit einem Schlage sah Togliatti vor sich das Gespenst der Koalition der Christlichen Demokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und Republikaner Gestalt annehmen. Als Fazit eines kommunistischen Umsturzversuches nicht schlecht! Was blieb ihm anderes übrig als zu behaupten, er habe die DC mit den Schultern an die Wand gedrückt und gezwungen, Tambroni fallen zu lassen.

Der Austausch der Neofaschisten gegen eine Mehrheit der demokratischen Mitte und der linken Mitte ist seit langem das Wunschbild der christlich-demokratischen Parteiführung. Diskrete Kontakte mit den Liberalen und Sozialdemokraten hatte es immer gegeben, die kommunistische Aktion gestattete, jetzt zu offenen Verhandlungen zu schreiten. Die Unterstützung durch den MSI hatte die katholische Partei immer mehr und mehr in Mißkredit gebracht; je früher man sich dieser Hypothek entledigen konnte, desto besser. Die Aufopferung Tambronis war ein Preis, den die DC gern bezahlen wollte.

Tambroni hat zu seiner und seiner Regierung Verteidigung eine Menge richtiger Dinge gesagt. Es ist durchaus wahr, daß die Kommunisten den nach Genua einberufenen Parteikongreß des MSI nur als Vorwand für ihre Gegenkundgebungen genommen haben, um sich die Solidarität der demokratischen Linken zu gewinnen. Bei den Krawallen in Livorno, einige Wochen zuvor, war der MSI überhaupt nicht im Spiel gewesen; dort hatten sich die Kommunisten „provoziert“ gefühlt, weil ein Fallschirmjäger einem Mädchen nachgepfiffen hatte. Dieser MSI-Kongreß wäre der siebente gewesen, aber gegen die vorangegangenen sechs hatte niemand protestiert. Auch nicht gegen den in Mailand, das ebenso eine „Stadt der Resistance“ ist wie Genua. Niemand hat bisher den MSI als verfassungswidrige Partei vor Gericht zitiert.

Alles das ist richtig, wie es richtig und wahr ist, daß wenige im Faschismus eine Gefahr für die italienische Demokratie erblicken, aber viele im Kommunismus. Die negative Entwicklung ist dennoch unleugbar. Vor zehn Jahren war der Neofaschismus in einen Winkel des politischen Lebens gedrängt, heute ist er zu einem bestimmenden Element geworden. Was immer die Regierung Tambroni an Gutem oder Schlechtem getan hat, es konnte nur mit Zustimmung der Neofaschisten geschehen. Eines ihrer Organe, der „Secolo“, erklärt stolz die „Soziatbewegung“ zum Traditionsträger des klassischen Faschismus wie jenes der Republik von Said. In der Kammer beantwortet der Abgeordnete Leccisi (genannt „Der Totengräber“, weil er 1946 Mussolinis Leichnam ausgegraben, entwendet und versteckt hat) den Ruf: „Es lebe das Parlament!“ mit einer unbeschreiblichen obszönen Bewegung.

Die christlich-demokratische Parteiführung hat die Gelegenheit im Fluge ergriffen, sich von der kompromittierenden Gesellschaft zu befreien. Sie tat es mit solchem Ungestüm, daß Tambroni dabei unsanft auf den Boden zu sitzen kam. Nun hat der Ministerpräsident aber die ihm zugefallene Aufgabe dennoch sehr geliebt. Der Verzicht fällt ihm sichtlich schwer. Seine Erklärung vor dem Parlament, die Feststellung von „Konvergenzen“ unter den demokratischen Parteien könne nicht ausreichend sein, um eine Regierung zu liquidieren, die bisher mühelos jedes Gesetz durchgebracht hat, ist nicht nur schlau, sie ist auch logisch. Erst ein öffentlich sanktioniertes Abkommen der Zentrumsparteien könne ihn zum Rücktritt veranlassen, sagt er. Er hat den Parteien damit einen Sporn in die Weichen gedrückt, die Verhandlungen sind fieberhaft geführt worden, bei Tag und bei Nacht. Tambroni hat richtig gesehen, wenn er annahm, daß die Annäherung verhältnismäßig leicht war verglichen mit der diplomatischen Herkules-Arbeit, sie in einem Bündnis zu fixieren.

Was die Parteien wollen, ist klar, hatte Tambroni ironisch gesagt, nämlich keine Regierung Tambroni. Was sie wollen, ist viel weniger klar. Oder besser gesagt, man weiß es wohl, doch wollen alle etwas anderes. Die Sozialdemokraten bestehen auf einer christlich-demokratischen .Notstandsregierung“ mit einem Chef, einer Richtung, einem Programm, das ihnen genehm ist. Darüber hinaus denken sie wohl schon an den Einschluß der Nenni-Sozialisten in die parlamentarische Mehrheit. Die Liberalen wollen davon nichts wissen. Sie möchten gerade die Zentrumstellung der kommenden Regierung unterstreichen. Die Republikaner bilden nur das rote Schlußlicht in dem neu zusammenzustellenden Konvoi. Die Schwierigkeiten sind also noch beträchtlich, und es könnte stimmen, was die Turiner „Stampa“ feststellt: „Die Erfahrung des italienischen politischen Lebens lehrt, niemals sichere Voraussagen zu riskieren.“

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