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Film im Urteil des Arbeiters

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Über den Film wird am meisten im Kreise der an der Herstellung und Verwertung Beteiligten und der Gebildeten gesprochen. Nur selten hört man die Stimme, die doch so entscheidend an Erfolg und Mißerfolg und damit, an der unsichtbaren Lenkung der Produktion beteiligt ist: die Stimme des einfachen Volkes. Und doch hat der kleine Mann ein festumrissenes Bild von dem einzelnen Film wie von der Gesamterscheinung.

Der Arbeiter oder Angestellte, auch der ein klein wenig besser Situierte, der sich hin und wieder einen Theaterbesuch leisten kann, geht gerne und mehr oder minder oft ins Kino.

Das Volk geht ins Kino. Ja, es würde auch dann noch ins Kino gehen, wenn das Theater nicht um einen Groschen teurer, ja wenn es sogar billiger wäre. Denn die Illusionsmöglichkeiten des Films sind ein- d ruck stärker, der Ablauf der bildhaften Ereignisse ist unendlich vielfältiger. Daher beeindruckt der Film auch stärker und nachhaltiger.

Aber es ist nun nicht so, daß das Vo'k für jeden Film, den man ihm vorsetzt, urteilslos dankt oder sich dort, wo ihm etwas nicht logisch, lebensecht und naturgetreu erscheint, bescheiden denkt: „Nun, jene, die den Film gemacht haben, müssen es natürlich besser wissen als ich!“, sondern das Volk denkt und — kritisiert. Es kritisiert nicht nur scharf, sondern zumeist auch zutreffend.

Ein Beispiel. Zur Mittagszeit im Speisesaal einer größeren Betriebswerksküche. Man hat schon gegessen, aber die Mittagspause dauert noch eine gute halbe Stunde. Vielleicht schon am ersten, vielleicht erst am dritten oder vierten Tisch wird man auf ein Gespräch über den Film stoßen. Arbeiter oder Angestellte sitzen da und plaudern. Der hat diesen, die hat jenen Film gesehen.

Ein Arbeiter, seinem weißbespritzten Kittel nach dürfte er Maurer oder Anstreicher sein, sagt nachdenklich: „Ich hab mir den Film ,Der Glöckner von Notre Dame' angeschaut. Ich hab’s zwar sonst net besonders gern, wenn der Film gar so weit in der Vergangenheit herumsucht, aber dieser Quasimodo, also, wunderbar!“

Meint ein anderer: „Ja, so schiadi ist nur alle tausend Jahr einmal einer!“

Da sagt der erstere: „Das mein ich net! Aber weißt, daß auch in so was ganz Häßlichem ein — ein eigentlich schöner Mensch steckt, das ist wunderbar. Man könnt gleich sagen: dieser Quasimodo, der ist — das Leben selber.“ (Dieses Gespräch hat tatsächlich genau so und an dem geschilderten Ort vor kurzem stattgefunden.)

Dieses eine Beispiel von vielen beweist, daß der Film nicht einfach hingenommen wird, wie er ist, sondern daß er anregt, daß er Nachdenken auslöst, daß er dem Volk, also den hunderttauscnden arbeitenden Menschen in Werksaal und Büro, zwar etwas zu bieten hat, außerordentlich viel bieten könnte, aber — daß auch viel von ihm verlangt wird.

Das Volk ist keine urteilslose Masse. Jene Minderzahl, die noch urteilslos ist, ist nicht ausschlaggebend.

Die Mehrzahl beurteilt den Film und

— will etwas von ihm. Natürlich, das Volk will Unterhaltung. Es sucht in dem durch den Film vor ihm abrollenden Geschehen Entspannung, Erheiterung, aber es hat dabei ein sehr feines Gefühl für das Echte und für das Falsche. Keine noch so raffinierte Technik vermag es über innere Leere hinwegzutäuschen oder in seiner klaren Unterscheidung zwischen rührend und rührselig wankend zu machen.

Zu viele Menschen haben ein Übermaß an starkem Leben geschaut, erlebt und erlitten, als daß sie heute noch mit irgendwelchen variierten Klischees zufrieden sein könnten. Sie wissen, wie hinter allem Häßlichen, Grauen und Eintönigen das Leben doch wieder schön, bunt und vielfältig strömt. Und sie sind der Ansicht, daß eben das Leben, so wie es heute ist, schön und häßlich, tal- gebunden und gipfelverschaut, in jedem Augenblick gleichviel abgeklärt weise und jugendlich stürmend Stoff über Stoff böte für tausend Filme, voll von heiterem und spannendem, lebensechtem und zeitnahem Geschehen. Sie warten auf solche Filme. Es dürfte sogar Grinzing und Schönbrunn dabei sein, sogar ein Heuriger und die Gloriette, und es brauchte doch kein Kitsch zu sein; wenn nämlich das Leben von heute darin ist, wenn die Menschen von heute sich darin bewegen, natürlich so, wie sie wirklich sind.

Wie der junge Elektromonteur Willy seine Herma, Arbeiterin in einer Glühlampenfabrik, kriegt, das kann viel spannender, heiterer, verwickelter, schwieriger sein, als die alberne Geschichte von dem Tippfräulein und dem Dollarprinzen; und weil diese beiden einfachen Menschen jung, gesund, stark und lebensfroh sind, braucht man das „Happy End" nicht erst an den Haaren herbeizerren, es ergibt sich von selber.

Das Volk will nicht belogen sein, von niemandem, von nichts, daher auch vom Film nicht.

Würde sich der Film aber dazu entschließen, heute schon diesen Weg zu beschreiten, dem er auf die Dauer ja doch nicht ausweichen kann, dann erfüllt er damit auch die ihm zustehende soziale und kulturpolitische Mission, alle jene, die noch zu keiner ausgeprägten eigenen Urteilskraft gefunden haben und störenden und verzerrenden Einflüssen leicht unterliegen, auf den richtigen Weg zu leiten.

So, wie der Film im großen Durchschnitt heute ist, genügt er jenen, die eigene Urteilskraft besitzen, im allerbesten Fall teilweise, den anderen, den Urteilslosen und Sdiwan- kenden, fügt er nur weitere geistige und seelische Schäden zu.

Weil der Film heute eine Bedeutung erlangt hat, die fast schon über jene des gedruckten Wortes hinausgeht, muß er sich unbedingt auch seiner Verantwortung bewußt sein oder — dahin gebracht werden, daß er sich den Pflichten dieser Verantwortung unterwirft.

Finanzielle Bedenken dürfen nicht den Ausschlag geben, außerdem münden sie immer wieder in die Erkenntnis daß gute und lebensechte Filme aus der unmittelbaren Erlebniswelt des Volkes, aus Arbeit, Alltag, aus innerem und äußerem Festtag, mindestens gleich hohe Erträgnisse bringen wie die „große Lüge“.

Das Volk will den Film. Bloß: es weiß ganz genau, was Kitsch ist. Und es weiß also auch: es ist heute noch sehr viel Kitsch im Film.

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