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FILM UND KINO: SOS!

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Die säkularisierten Tempel beben.

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Die säkularisierten Tempel beben.

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FiIm und Kino rufen um Hilfe.

Aus sagenhaften Midas-Zeiten, da alles in der menschlichen Hand zu Gold wurde, schleppen Film und Kino heute auf gekrümmtem Buckel die schwere Last dieser Saga mit. Die nach wie vor großsprecherische eigene Reklame tut ein übriges und schwelgt in gefährlichem, weil das Bild verfälschendem Rausch der Zahlen: was für astronomische Gage Liz Taylor für einen einzigen Film bekommt; in welchen Traumvillen und Wäschereien Curd Jürgens seine blutigen Arbeiterkreuzer angelegt hat; wie viele Millionen der „bisher teuerste Film“ vom Dienst umschlungen, verschlungen und wieder eingebracht hat.

Das alles mag im einzelnen heute noch zutreffen, im Zusammenhang aber stellt sich heraus, daß der Film schon seit Jahren „arm am Beutel, krank am Herzen“ ist. Der Substanzschwund frißt von oben und von unten, innere und äußere Krisen überschlagen sich.

Warum eigentlich wirklich? Genügen denn noch die bekannten klassischen Argumente der Wirtschaft und der Wissenschaft, um die tiefste Ursache und das ganze Ausmaß der beginnenden Katastrophe zu erklären?

Gewiß: Die neue Wohlstandsgesellschaft hat sich bis zum Hilfsarbeiter hinunter arriviert, hat Allüren angesetzt, die sie nur in Raten abzahlen kann — wo kann man dafür sparen? Beim Kino! Gewiß: Die neue Freizeitgesellschaft wandert nicht mehr auf zwei Füßen in Wald und Heide, sondern braust auf zwei, drei und vier Rädern übers Wochenende in die Ferne: Samstag, Sonntag und Doppelfeiertage, ehemals die Sonntagskinder der Lichtspieltheater, sind heute ihre Sorgenkinder geworden. Die Massenmediengesellschaft schließlich hat sich dem abendlichen Fernsehen verschrieben, und das legitime Kind des Films ist zum Vatermörder geworden.

*

Dennoch, dennoch: Das alles geht nicht an die Wurzel. Der Wurm sitzt und frißt tiefer. Der Film, anfangs als technische Spielerei und Budenzauber angesehen (was er im Grunde ist und bleibt — Dank ihm dafür!), ist im zweiten Drittel seiner bisherigen Geschichte in verhängnisvoller Tragik als Kunst des Jahrhunderts, ja als Gesamtkunstwerk der Zukunft verkannt und rangüberhöht worden. Prompt stellte sich, im dritten Drittel, naturnotwendig die Atemnot ein! Alle „Gegenstöße“, Ton, Farbe, Breitwand, Raumton und Piseudoplastik, konnten die erschreckende geistige Entleerung nicht verbergen (eine andere, sehr beliebte Art von Gegenstößen der Industrie in Krisenzeiten: Sexualität und Brutalität, wollten das nicht einmal!).

Der Film von heute hat nicht mehr den Reiz des Naiven, um die Masse anzulocken, und nicht mehr die Magie der „neuen Sprache“, um den Intellektuellen zu genügen. Er ist nicht mehr attraktiv.

Ein Vorwurf? Nein. Der Film, nicht nur der deutsche, sondern der Film der ganzen Welt „kann gar nicht besser sein“. Es ist zuviel in ihn hineingeheimnist worden. Das Publikum ist erstaunlich rasch emanzipiert (anspruchsvoll!) geworden, ja abgebrüht. Der Film aber hielt seinerseits das Tempo dieser Entwicklung nicht durch, er kam nicht mit. Es war ganz einfach „nicht drin“, was man von ihm verlangte. So ging die ehedem so enthusiastische Gefolgschaft mit fliegenden Fahnen ins gegnerische Lager über — sie wird auch dem Fernsehen bestimmt bis zum Aufkommen der nächsten Sensation treu bleiben ...

Das gilt, wie gesagt, nicht bloß für den österreichischen und deutschen Film, der die Lage nur überdeutlich widerspiegelt. Es gilt vielmehr auch für den amerikanischen Film, dessen Supershows und Kolossalfilme das Publikum schon heute ermüden, aber auch für den französischen und italienischen Film, dessen überdrehte ästhetische Stile (Resnais, Antonioni) in Sackgassen münden. Filme wie „La notte“ und „Letztes Jahr in Marienbad“ sind gefährlicher als andere; sie sind wohl ein Gaumenkitzel für den Augenblick, verderben aber, auf Dauer verkostet, den Magen — und erschweren die Diagnose für den Kranken.

Technik, Industrie und Kommerz beginnen bereits vorsichtig, die ungebührlich hohen Investitionen aus Film und Kino herauszuziehen und umzudisponieren; nicht gänzlich, denn sogar des Filmes Todfeind, das Fernsehen, wird immer Filme brauchen. Doch der Rückbildungsprozeß, der nicht unbedingt zur Katastrophe, sondern möglicherweise auch nur zu einer zwar schmerzhaften, im Grunde aber natürlichen Auslese führen kann, ist in vollem Gang.

In diesem größeren Zusammenhang gewinnt das kürzlich herausgegebene „Schwarz-Weiß-Buch der Österreichischen Lichtspieltheater“ eine besondere Bedeutung.

Seine Klagen und Anklagen erfahren ihre Rechtfertigung dadurch, daß in anderen Ländern die geschilderte Krise vom Staat (nicht nur von Diktaturen, sondern auch von demokratischen Staaten des Westens!) längst erkannt und durch Steuernachlässe, Zuschüsse und Prämien gemildert wurde. In Österreich aber ist nicht nur die Spielfilmproduktion im ganzen sich selber überlassen geblieben, sondern der Kinobesitzer zusätzlich zu den üblichen Abgaben seines Gewerbes noch durch drei Sondersteuern belastet, die es außerhalb Österreichs gar nicht oder nur in sehr bescheidenem Ausmaß gibt.

Die Folgen: Zwischen dem 1. September 1959 und dem 31. Dezember 1962 sind 71 österreichische Kinos wegen Unrentabilität geschlossen worden. Eine Reihenuntersuchung, fußend auf finanzamtlich anerkannten Bilanzen für das Geschäftsjahr 1961, hat ergeben, daß die österreichischen Lichtspieltheater, was das reine Kinogeschäft betrifft, mit einem durchschnittlichen Verlust von 0,7 Prozent arbeiten. Also wieder einmal: vom Draufzahlen leben? Nein. Denn es gibt vielerorts noch Nebeneinkünfte aus Saalvermietung, Werbeeinschaltungen und Büffet, die den Betrieb eine Zeitlang über Wasser halten können — eine ungenügende, unverläßliche Sicherung, die bei einer allgemeinen Konjunkturabflachung über Nacht durchbrennen kann.

Und das alles mitten im beängstigenden Besucherschwund, der die jährliche Kinobesucheranzahl in Österreich in den Jahren 1958 bis 1962 von 122 auf 90,5 Millionen, das ist um 25 Prozent gedrückt hat.

*

Was hat es denn nun wirklich mit den sogenannten Sondersteuern für Bewandtnis, über die sich die Lichtspieltheaterbesitzer Österreichs so bitter beklagen?

Fall eins: die Vergnügungssteuer, auch (ohne zynische Anspielung auf die Qualität der gegenwärtigen österreichischen Filmproduktion) Lustbarkeitsabgabe genannt. Sie rangiert ganz vorn, nicht nur wegen ihrer absoluten und relativen Größe (1961 führten die österreichischen Kinobesitzer 130 Millionen Schilling ab), sondern auch wegen ihres patriarchalischen Alters. Sie stammt nämlich aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Damals wurde sie als Beitrag zur Kriegsopferversorgung eingeführt, ihr ursprünglicher Höchstsatz betrug zehn Prozent. Heute kann die Vergnügungssteuer von den Gemeinden nach eigenem Ermessen bis zu einer Höhe von 25 Prozent festgesetzt werden. Außerdem ist die heutige Verwendung von der ursprünglichen Widmung längst abgegangen. Es handelt sich um eine reine Finanzsteuer der Gemeinden.

Fall zwei: Hier ist es schwer, keine Satire zu schreiben. Als man nach dem zweiten Weltkrieg neuerdings Geld für die Opferfürsorge brauchte, die Beträge aus der seinerzeit eingeführten Opferfürsorge-Abgabe aber längst anderen Zwecken zugeschanzt worden waren, erfand man eben — eine zweite Sondersteuer für denselben Zweck! Und wieder waren es die Lichtspieltheater, die zur Finanzierung gewerbefremder Erfordernisse herangezogen wurden. 24 Millionen Schilling ergab das 1961.

Fall drei: der Kulturgroschen. Er beträgt heute 30 Groschen pro Kinokarte und erbrachte 1961 28 Millionen.

Er hat seine Geschichte. Eine hübsche Geschichte. Sie beginnt im Jahre 1949 mit dem ausdrücklichen Hinweis des Gesetzgebers, daß dieser Kulturgroschen als befristete Notstandsmaßnahme zur Behebung der Theaterkrise gedacht sei. So heißt es im Motivenbericht der Gesetzvorlage:

„... daß es vertretbar ist, die mechanisierte Kunst des Films zu einer kleinen Abgabe zugunsten derjenigen Kulturinstitute heranzuziehen, die in den letzten Jahrzehnten durch die Erfindung und ungeheure Verbreitung des Films eine beträchtliche Einbuße an dem Interesse der breiten Massen erleben mußten...“

Die Situation hat sich seither grundlegend geändert. Jetzt ist es das Kino, das eine beträchtliche Einbuße am Interesse der breiten Massen erleben muß, während das Theater steigende Besucherzahlen aufweist.

Trotzdem kann der Kulturgroschen allen Zusagen und Einsichten höheren Orts zum Trotz nicht sterben. Denn Bund und Länder haben baß Freude an ihm, teilen mehr oder minder redlich die Beute und subventionieren damit direkt Vereinchen und Reisen, indirekt auch ausgesprochene Kino-Konkurrcnzinstitutionen!

*

Was wollen nun die österreichischen Lichtspieltheaterbesitzer? Keine Geschenke, keine Subventionen! Sondern:

• grundsätzliche Anerkennung der Lebensberechtigung des Kinos als eines Gewerbezweiges, der eine über den kommerziellen Zweck hinaus kulturwichtige Aufgabe zu erfüllen hat und der durch die Öffentlichkeit auch immer zur Erfüllung dieser Aufgabe aufgerufen wird;

• Befreiung der Lichtspieltheater von zwei der drei Sondersteuern, die mit dem Gewerbe selbst nichts zu tun haben, vom Kulturgroschen also und von der Opferfürsorgeabgabe. Diese beiden Sondersteuern wurden seinerzeit ausdrücklich als vorübergehende Notstandsmaßnahmen eingeführt — die Voraussetzungen dafür sind seither weggefallen, und die trotzdem weiterhin eingehobenen Sondersteuern werden teilweise längst widmungswidrig verwendet;

• Reduktion (stufenweise) der Vergnügungssteuer, die heute noch in jeder Gemeinde nach gesonderten Bemessungsgrundlagen eingetrieben wird. (Nahziel: Herabsetzung von 25 Prozent des Kassapreises auf zehn Prozent.

• Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen der Lichtspieltheater mit dem Fernsehen, dem gleich in die Wiege 370 Millionen zur Aufpäppelung gelegt wurden (das Kind ist trotzdem bislang nicht sonderlich gediehen). Diese Gleichstellung wird fürs erste zum Teil durch den Wegfall der erwähnten Sondersteuern zu erreichen sein, von denen das Fernsehen von Anbeginn an verschont geblieben ist. Darüber hinaus ist die Gleichheit auch auf dem Gebiet des Jugendschutzes herzustellen. Da eine so strenge und kontrollierte Einhaltung des Jugendverbotes wie im Kino bei Spielfilmen im Fernsehen nicht gut möglich ist, mögen im Fernsehen nur jene Spielfilme gezeigt werden, die auch für die Kinos in sämtlichen österreichischen Bundesländern jugendfrei sind.

Alle diese Begehren dünken jedem unbefangenen Beobachter grundsätzlich nicht unbillig. Ihre Erfüllung könnte dem österreichischen Kinobesitz für die kommenden Entwicklungen und Bedrängungen etwas Luft machen. Ob sich die angestrebte Gesundung auch fühlbar, wie das Schwarz-Weiß-Buch an einer Stelle andeutet, wellenartig auf Produktion und Verleih günstig auswirken wird, bleibe dahingestellt.

Denn dort oben kündigt sich schon heute eine Schlacht in den Lüften an, die noch in diesem Jahrhundert über Leben und Tod des Films und des Kinos entscheiden wird (Schwarz-Weiß-Buch: „Das Kino darf nicht sterben“).

In diesen Krieg gehen die Kinobesitzer ohne schwere Waffen, nur als schlichtes, gemeines Fußvolk. Man soll es ihnen dabei nicht schwerer machen, als es an sich schon ist.

In ihren Häusern klaffen Risse und Sprünge: Die säkularisierten Tempel beben.

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