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Flucht in die Freiheit

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DIE ROTE. Roman. Von Alfred Ander ich. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1960. 294 Seiten.

Andersch ist von dem Motiv der Flucht fasziniert, es taucht in den verschiedensten Variationen in seinen Büchern auf, und immer bringt er es in Verbindung mit dem Problem der Freiheit. Da gibt es die Flucht aus äußeren Zwangssituationen und die andere aus geistigen und seelischen Giünden. Die Flucht von Verfolgten, als letzte Möglichkeit, das nackte Leben zu retten, aber auch die von Menschen, die diesen Ausweg wählen, um ihre individuelle Freiheit zu wahren oder erst zu erringen.

In seinem Bericht „Die Kirschen der Freiheit“ setzte Andersch sich mit der Desertion (der eigenen) auseinander. „Als er desertierte, ging er in seine subjektive Freiheit“, meinte ein Rezensent des Buches. „Es ist ein Sprung, mehr noch ein Sichfallenlassen. Was aber ist diese Freiheit? Eigentlich nur ein Augenblick zwischen zwei Unfreiheiten…“ (Karl Korn).

ln der kleinen Suite „Piazza San Gae- tano" schilderte Andersch den Aufbruch — auch er ist eine Flucht I — eines jungen englischen Bankbeamten nach Neapel, um dort das Gedicht zu suchen, von dem ihm die weitere Entwicklung seines Lebens abzuhängen scheint. Es wird ihm geschenkt, „ein ziemlich holpriges, schlechtes Gedicht", das jedoch dem jungen Aldridge die Erkenntnis vermittelt, die holprigen Gedichte könnten wirksamer sein als die vollendeten. „Ich meine: Wenn sie Gedichte sind.“ — ln „Sansibar“ schließlich, dem Roman, der Andersch seinen unverwechselbaren Platz unter den jüngeren deutschen Autoren eintrug, ging es um drei verschiedene Formen des Verfolgtseins und Widerstandes, die wieder zum Gedanken der Flucht und zur Auseinandersetzung mit der Freiheit führen. Für das jüdische Mädchen Judith, das Opfer des Systems (die Geschehnisse begeben sich 1937 in Deutschland), bleibt die Flucht als einziger Ausweg des Überstehens. Bei dem abtrünnigen Kommunisten Gregor handelt es sich um Flucht in einem anderen Sinn: um das Aufgeben nicht mehr tragfähiger Bindungen, um die Entscheidung für eine Welt „ohne Aufträge“, für eine Welt, in der der Mensch als Individuum zählt, nicht nur als Objekt, als Schachfigur im Spiel der Macht und der Mächte. Und endlich ist da noch der Pfarrer Helander, der sich opfert, die Flucht in den Tod wählt. Er bezahlt den Versuch, die in seiner Kirche stehende Figur eines Klosterschülers — „entartete Kunst", die die Machthaber beschlagnahmen wollen — außer Landes in Sicherheit zu bringen, mit seinem Leben. „War nicht diese ganze Angelegenheit mit der Figur einfach ein Selbstmord, ein eigensinniger Gang in den Tod?“ Nein, diese Angelegenheit ist viel mehr, denn die Figur wird in dem Buch zum Wahrzeichen der echten inneren Freiheit, zum Symbol all dessen, was „die anderen“ zerstören wollen, weil es ihr eigenes verrottetes System in Frage stellt.

Wir sind auf diese Probleme so ausführlich eingegangen, weil in Anderschs neuem Roman „Die Rote“ sein Grundthema ahgewandelt, wir möchten sagen mit einem positiveren Akzent, erscheint. Eine Flucht ist auch hier der Ausgangspunkt der Geschehnisse, aber eine Flucht, die mehr und anderes bedeutet als eine letzte Möglichkeit im Grunde resignierender Gestalten, ln dem vorliegenden Buch führt die Flucht zur „großen Lösung“, die das Leben zu ändern vermag, zum Engagement für etwas Wesentliches, Gültiges.

Eine Frau flicht aus ihrem leer und sinnlos gewordenen Leben zwischen zwei Männern, die ihr beide gleichgültig geworden sind. Sie flieht zugleich aus einer Welt, in der die Spielregeln des Kaufens und Verkaufens bis in die intimsten persönlichen Bereiche hinein Geltung haben. Diese Franziska entschließt sich so abrupt und unüberlegt zum Ausbruch aus der schalen Sicherheit und Bequemlichkeit ihres bisherigen Daseins, daß sie — ohne Geld und ohne Arbeit in einer fremden Stadt, Venedig — buchstäblich vor dem Nichts steht. Als neue Gefahr überfällt sie die Gewißheit, daß sie schwanger ist. Aufgeben und Rückkehr in das alte, schleimige Leben scheinen unvermeidlich. Aber Franziska widersteht den sich ihr bietenden Möglichkeiten, „sich zu arrangieren“, die wieder nur zu einer neuen Form des vergangenen Daseins führen könnten. Sie will einen ganz neuen Anfang setzen, sagt „Ja“ zu ihrer Schwangerschaft und entschließt sich, bewußt aller Konsequenzen, für das harte Leben einer Hilfsarbeiterin in einer italienischen Fabrik. „Anfängen, irgendwo zu Hause sein“, das will sie, und Sauberkeit, auch wenn man sie mit dem Opfer eines verwöhnten Lebens bezahlen muß.

Andersch «verknüpft Franziskas Schicksal mit einer aufregenden Verfolgungsgeschichte („Ich bin in einen Kriminalroman geraten"), in die auch noch die unbewältigte deutsche Vergangenheit hineinspielt. Es grenzt an vollendete Artistik, wie alle diese sehr verschiedenen Elemente ineinander und in die venezianische Atmosphäre verwoben werden, die durch einige prägnante Figuren und Szenen lebendig wird. Andersch versteht es auch, die atemberaubende Spannung nicht aus dem vordergründigen Geschehen, sondern aus den Tiefen und Untiefen des menschlichen Herzens zu entwickeln. Er ist ein brillanter Erzähler, der seine faszinierenden Schilderungen ergänzt durch innere Monologe seiner Gestalten, in denen sich ihre psychischen Reaktionen spiegeln. Er ist ein Routinier auf dem Gebiet des Schreibens, aber diese Routine hat seine schöpferische Kraft nicht verkümmern lassen, und auch nicht seine Fähigkeiten, sich zu engagieren. Das ist immerhin viel in unserer Zeit.

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