Flucht ohne Wiederkehr

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1943 verweigerte sich Sándor MÁrai dem Literaturmarkt und floh vor der Barbarei in Ungarn in die innere Emigration - und in seine Tagebücher.

Geschichte ist ein Widerstandsmittel gegen Identitätsverlust. Individuelle Lebensgeschichte erst formt jenen Echoraum, in dem sich das ungeteilt Persönliche, mit allen Widersprüchen und Dissonanzen, Klang verschafft - persona war in der Antike jene Maske, durch welche die Stimme des Handlungsträgers "durchtönte". In kollektivistisch verhetzten Zeiten wird der Angriff zunächst stets gegen das Individuum und die Würde seiner eigenen Geschichte gelenkt; der Anfang vom Ende der Menschenrechte ist so markiert.

1941, mitten im Toben des totalitären Massenwahns, schrieb Sándor Márai, damals Ungarns erfolgreichster Autor, mit seinem Roman "Die Kerzen brennen herab" (der viel später im Deutschen unter dem Titel "Die Glut" zum Bestseller wurde) ein deutliches Manifest des Widerstands gegen den vorherrschenden Zeitgeist. Wo Volk und Rasse alles und der Einzelne nichts galt, bestand die scheinbar nur private Geschichte einer von Liebesleidenschaft durchkreuzten Männerfreundschaft auf der Würde individuellen Schicksals und einer lebenslang schwelenden inneren Passion. 41 Jahre lang sind da zwei Männer verstrickt in die Nachwirkungen der Vergangenheit, so lang wie das Jahrhundert damals verheddert war in die Nachwirkungen der noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden nationalistischen Ressentiments und Konflikte. Nur dass die beiden Greise nun, mitten im Krieg und blutigen Untergang völkischer Geschichtsmythen, den Willen zur Wahrheit und klärenden Aufarbeitung ihrer privaten Vergangenheit finden, um damit ihrer Lebensgeschichte die Würde des Individuellen, des "Unteilbaren", zu retten.

Tagebuch als Rückzugsort

In der Literatur sichert diese Würde des Individuellen dort, wo sie sich von außen oder innen bedroht fühlt, von jeher das Tagebuch. Márai wurde ein großer Diarist, weil er sich 1943 dem Literaturmarkt verweigerte und vor der Barbarei im mit Deutschland verbündeten Ungarn aufs Land, in die innere Emigration, entfloh. 1944, mitten im Wüten deutscher Nazis und ungarischer Pfeilkreuzler vor allem gegen die Juden, vermerkte er: "In den letzten Monaten dachten viele von uns in Ungarn, wir wären bereits auf der untersten Sohle der Hölle angelangt. Seit zwei Tagen wissen wir, dass es noch tiefer geht ..." Erfüllt von mitunter bedrückend genauer Menschen- und Weltkenntnis, sah er voraus: "Wenn der Krieg zu Ende sein wird, begraben die Menschen die Toten und werden dann schnell und ohne Überlegung Liebe und Sex, die Teuerung, die Arbeitslosigkeit, das Dumping, den Streik und den Börsenkrach erfinden ..."

Sándor Márai konnte 1943, als er sein Logbuch der täglichen Gedankenfahrten begann, nicht ahnen, wie sehr ihn sein Versuch einer literarischen Rettung der individuellen Geschichte in dem Jahrhundert, das er von 1900 bis 1989 durchlebte, noch selber existenziell betreffen würde. Erst musste er (auch weil seine jüdische Frau rassisch verfolgt war) der Besetzung Budapests durch deutsche Truppen weichen. Dann, nach der erneuten Etablierung als bürgerlicher Schriftsteller in Ungarn, entzog er sich 1948 dem von den kommunistischen Machthabern ausgeübten Anpassungsdruck durch Flucht ins Exil. Quer durch Europa führte ihn seine Emigration, dann fünfzehn Jahre lang nach New York, das er mit dem bitteren Gefühl vollständigen Scheiterns verließ, nur um Jahre später das Fluchtland Italien wiederum mit Amerika, mit San Diego an der Küste Kaliforniens, zu tauschen. Stets mit im Gepäck: seine täglichen Aufzeichnungen, an denen er bis ans Lebensende festhielt. Mit den ersten beiden Bänden aus der Kriegszeit eröffnet der Piper-Verlag nun deren vollständige deutsche Edition.

41 Jahre lang dauerte Márais Flucht ohne Wiederkehr. Bis zuletzt beharrte er darauf, dass weder er noch seine Werke in ein Ungarn zurückkehren werden, das noch von russischen Truppen besetzt und fern freier demokratischer Wahlen sei. Als auch seine Frau, mit der er länger als sechs Jahrzehnte zusammengelebt hatte, und sein Adoptivsohn János gestorben waren, nahm er sich, hochbetagt, vereinsamt und mittellos, die individuelle Freiheit, auch über das eigene Ende selbst zu verfügen.

Literat und Europäer. Unzeitgemäße Gedanken. Tagebücher Bd. 1 und 2

Von Sándor Márai. Aus d. Ungar. v. Akos Doma und Clemens Prinz. Piper 2009

474/436 S., je € 49,30

Sándor Márai, 1900 in Kaschau (Košice, heute Slowakei) geboren, studierte in verschiedenen europäischen Ländern. 1928 kehrte er als Journalist nach Budapest zurück. Er verließ Ungarn 1948, ab 1952 lebte er bis zu seinem Freitod 1989 in den USA.

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