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Forellen fangen und Tisch decken

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Die amerikanische Oeffentlichkeit ist in den letzten Monaten nachdrücklich auf das Anwachsen der großstädtischen Jugendkriminalität aufmerksam gemacht worden, insbesondere im Zusammenhang mit den „Y o u t h gangs“, die sich in Verteidigung bestimmter von ihnen in Anspruch genommener „Territorien“ gegen die „Invasion“ ortsfremder Rivalengangs regelrechte Straßenschlachten liefern bzw. unbequem werdende Repräsentanten feindlicher Straßenblocks mit — teilweise tödlichen — Waffen zu „liquidieren“ versuchen.

So antisozial aber auch diese Jügendbanden : sitfd'“(daft'trVah mit scharfen Maßnahmen gegen sie“ vorzugehen beginnt, ist verständlich, nachdem allein in einer Woche in New York erst kürzlich vier Tote als Opfer der Bandenkriege auf dem Pflaster geblieben sind), fast noch gefährlicher scheinen manchem Beobachter die Tendenzen zynischer Indifferenz gegenüber allen moralischen Werten, wie sie sich in der „S i-lent generation“ herauszubilden beginnen, deren wohl typischeste Vertreter aus der Mittelklasse kommende Studenten sind. (Der von Prof. S c h e 1 s k y inzwischen auch in Deutschland neu eingeführte „Generations“-begriff dient heute der amerikanischen Soziologie in einem weit seine Nützlichkeit übersteigenden Ausmaß als Definitionsgrundlage!) — Die „Vassar Review“, das Blatt der Studentinnen des berühmtesten Mädchencolleges in den USA, hat, anklagend, den Text einer Selbstaussage aus diesem Milieu der sonst recht schweigsamen, einzig und allein auf Vorwärtskommen und Erfolg eingestellten Schicht publiziert, das — wenn auch wahrscheinlich in einigen Formulierungen überspitzt — die Mentalität dieses anderen Typs „antisozialer“ Jugend widerspiegelt:

„Ich gebe nicht vor, irgendein hohes Ideal zu haben, das mich bewegt oder das dazu dienen könnte, meinen Wunsch, etwas zu erreichen und ein Erfolg zu werden, zu verschleiern. Im Gegenteil — alles, was ich tue, ist berechnet oder wenigstens darauf bedacht, meine eigene Lage zu verbessern . .. Was Glücklichsein betrifft — ich setze das ziemlich gleich mit materiellem Erfolg. Ich rechne jetzt zuversichtlich damit, in die Welt des Big business einzutreten. Ich habe dieses Betätigungsfeld gewählt, weil ich glaube, es bietet sowohl die erregendste Herausforderung als auch die reichsten Erträge in Geld, Prestige und allgemeiner Selbstbefriedigung ... Ich denke selten an Gott... und bete nur, wenn ich außergewöhnlich bedrückt bin. Was meine Philosophie betrifft, Religion spielt darin so gut wie keine Rolle. Es gibt nur einen entscheidenden Gesichtspunkt in meiner Philosophie — Mich und den Wunsch, zu überleben ... das heißt, ich kümmere mich wenig um Abstraktionen ... Wenn man in der Welt („Dog eats dog“) etwas erreichen will, muß man egoistisch sein ...“

Diese ..Philosophie“ dürfte der junge Mensch in wenigen Fällen daheim gelernt haben. — Natürlich auch nicht im College.

Dennoch trägt die amerikanische Schul- und Hochschulerziehung ein gut Teil Mitverantwortung dafür, daß sie um sich griff: einfach deswegen, weil sie in ihrer monomanischen Ausrichtung auf Lebenstüchtigkeit (man nennt das „Life adjustment“, Anpassung an die Lebenserfordernisse!) es versäumt, den Jugendlichen in der Vermittlung eines umfassenden Bildes vom Menschen und seiner gesellschaftlichen Verantwortlichkeit ethisch verbindliche Wertskalen zu vermitteln. Vizeadmiral H. G. R i c k o v e r, dessen Buch „Erziehung und Freiheit“ zu den schärfsten Kritiken am heutigen System gehört, schreibt spöttisch: '^Unsere Schulen, bringen'' nette, freundliche “junge Menschen hervor,“ die gelernt haben, wie man Forellen fängt und den Tisch deckt, aber als Erziehungsstätten sind sie nicht allzu viel wert.“ Erfolgbesessene „Nihilisten“ oder freundliche junge Leute — das Resultat ist das gleiche: kaum wissenschaftlich ernstlich arbeitender Nachwuchs.

Als im Oktober 1957 der erste russische „Sputnik“ einer etwas verblüfften amerikanischen Oeffentlichkeit zum Bewußtsein brachte, daß man auch jenseits des Eisernen Vorhanges wissenschaftlich arbeitet und anscheinend sogar besser als in „God's own country“ — wie man zweifelnd anfügte —, setzte ein Sturm publizistischer Kritik am amerikanischen Schul- und Hochschulsystem ein, dem man vorwarf, in der Vernachlässigung der naturwissenschaftlichen Fächer, der Mathematik und der Fremdsprachen unzulängliche Nachwuchsbildung verursacht zu haben.

Der Kongreß nahm denn auch — gepreßt von der öffentlichen Meinung — eine „National Defense Education Act“ an, mit der zirka eine Milliarde Dollar zum Ausbau der drei vernachlässigten Fächer und zur Begabtenförderung überhaupt bereitgestellt wurde. Schüler und Studenten wurden aufgefordert, in einen Wettbewerb mit den russischen Kommilitonen einzutreten. Einer Rundfrage zufolge haben damals 80 Prozent der befragten Studierenden sich begeistert dazu verpflichtet. Kürzlich hat Eugene Gilbert, der Präsident der Youth Research Organisation, mit einer neuen Umfrage dazu nachgefaSt. Die Begeisterung hat nachgelassen: Nur noch 61 Prozent der Tefragten haben noch immer den Ehrgeiz, es den russischen Gleichaltrigen (von denen man annimmt, daß sie begeisterte „Wissenschaftler“ sind!) im Studium der Naturwissenschaften gleichzutun oder sie zu überrunden; 48 Prozent der Jungen und 34 Prozent der Mädchen gaben zu. das Interesse daran verloren zu haben. Und nur 25 Prozent haben in ihren Schulen festgestellt, daß die Lehrer selbst größeren Wert auf die betreffenden Fächer als vorher legen. Die Öffentliehe Diskussion Uber die „Krise der amerikanischen Erziehung“, wie man etwas übertrieben kritische und selbstkritische Feststellungen von Seiten einer Anzahl von Fachleuten genannt hat, hat sich inzwischen gelegt. Sie ist in interne Zirkel von Erziehern zurückgekehrt. Kein Zweifel — aus den mannigfachen Vorschlägen werden sich funktionell irgendwann Resultate ergeben. Aber wird man ebenso schnell die Haltung der Studenten zum Studium selbst ändern können?

Simone de Bouvoir berichtet in ihrem Buch über ihre Amerikareise „Amerika, Tag und Nacht“:

„Das Wort eines Studenten frappierte mich. Auf meine erstaunte Frage, wie es denn käme, daß so viele seiner Kameraden die geistigen Werte zu mißachten schienen, sagte er: ,ln Europa sind die Studenten Intellektuelle, bei uns aber nicht.' “

Es ist in der Tat so: Die überwiegende Zahl der amerikanischen Colleges (es gibt einige Ausnahmen: Eliteuniversitäten, wie Yale, Harvard, Princeton, Vassar usw.) sind im Grunde Fachschulen, das heißt, sie bereiten auf bestimmte Berufe vor. Diejenigen Studenten, die geisteswissenschaftliche Fächer belegen, sind sogar gegen Ende des Studiums, wenn sich große Unternehmen z. B. nach Nachwuchs auf den Hochschulen umsehen, in steigendem Maße unberücksichtigt.

William H. Whyte Jr. berichtet u. a. in seiner viel beachteten Studie „The Organisation Man“, daß an jedem Semesterende von je 100 Studenten, die das College verlassen, nur eine Handvoll derer Stellen angeboten bekommt, die ihre Abschlußprüfung in geisteswissenschaftlichen Fächern gemacht haben: „Was man sucht, geht in dieser Reihenfolge: erstens Spezialisten, zweitens Spezialisten mit ein wenig .Liberal-arts'-Fächern daneben, drittens Studenten überhaupt, viertens Studenten der ..Humanitas“. Im Jahre 1952 zeigten von 117 Gesellschaften, die Nachwuchsinterviews veranstalteten, sich nur 14 Prozent überhaupt interessiert, mit nicht auf Spezialistentum vorbereiteten Studenten zu sprechen. Zwischen 1953 und 1956 wurden die Appelle der großen Firmen, sich zu spezialisieren, noch stärker. — Dabei ist nach der Meinung vieler Studenten Erfolg nur gewährleistet ■ bei großen Gesellschaften, kleine Betriebe werden mit einem Gefühl der Unsicherheit betrachtet, und die Aus-r?idd;?.s*tti tadtfb zu arbeiten, hat des Youth Research Instituts unter Studenten und heimgekehrten Soldaten haben 61,1 Prozent bejahend auf die Frage geantwortet: „Glauben Sie, daß sich alle Ihre wirtschaftlichen Hoffnungen erfüllen werden, wenn Sie für jemand anderen arbeiten?“ Nur 20 Prozent zogen selbständige Stellungen vor, die anderen waren unentschieden. Rickover, der im übrigen vor kurzem öffentlich erklärt hat, daß das amerikanische Erziehungssystem in keiner Weise dem russischen gewachsen ist und daß dieses noch weit hinter dem der meisten europäischen Länder zurücksteht, will vor allem eins beseitigen: „Die heutige Besessenheit von dem, was nützlich ist.“ Es hat sich schließlich herausgestellt, daß viel weniger die Vernachlässigung bestimmter Einzelfächer als das Fehlen einer weitreichenden Allgemeinbildung die Wurzel der bemerkbar werdenden Unzulänglichkeit in der wissenschaftlichen Ausbildung der Colleges sein dürfte, auch wenn der überraschend niedrige Prozentsatz des Nationaleinkommens, den die USA auf Erziehungszwecke verwenden (3,1 Prozent! Ungefähr so viel wie Ceylon!), der bösen Formulierung der militantesten Kritiker, sie ermögliche nur „die Mindesterziehung für den Mindesterzogenen durch Mindesterzogene“ eine gewisse Berechtigung zu geben scheint.

Die Vorschläge, die Dr. J. B. Conant in seinem Buch „The American High School today“ macht, sehen für die höhere Schule zwar im allgemeinen die Beibehaltung der „Comprehensive High School“, das heißt, das System verschiedener Lehrpläne für verschiedene Interessen vor (David Riesman hat in „Die einsame Masse“ nachdrücklich auf das Vorherrschen der „der Persönlichkeit der Kinder angemessenen“ Erziehungsmethoden überhaupt hingewiesen!), will aber doch wenigstens die 15 Prozent der besten Schüler mehr allgemein vorgebildet sehen und vor allem die bereits erwähnten vernachlässigten Fächer mehr in den Vordergrund gestellt haben.

In der Praxis zeigt sich beim „Collegebusiness“ ein Circulus vitiosus, begründet in „Angebot und Nachfrage“, man „lieferte“ der Öffentlichkeit, was verlangt wurde, und muß plötzlich feststellen, daß der Kunde sich benachteiligt fühlt, weil er selbst zu leichtes Gewicht bestellte.

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