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Fortschrittsglaube und Abstammungslehre

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Der Todeskampf des Fortschrittsglaubens, des Glaubens, daß die Geschichte der Menschheit einen stetigen — wenn auch durch peinliche Rückschläge öfter unterbrochenen und durch dunkle Kräfte zeitweise gehemmten —' Fortschritt zu immer höherer Vollendung des Menschen und seiner sozialen Ordnung zeigt, prägt die verzerrten Züge des europäischen Antlitzes von heute. Dieser Fortschrittsglaube ist noch gar nicht alt. Die Antike kannte ihn nicht, denn für sie lag das goldene Zeitalter in der Vergangenheit, und als die Ergebenheit in das unentrinnbare Schicksal den Menschen nicht mehr genug Kraft zum Ertragen des eisernen Zeitalters geben konnte, da erstand die Sehnsucht nach einem Messias, der das alte Glück wieder herbeiführen sollte. Für den Christen war der Messias in einem neuen und höheren Sinn gekommen. Für das christlidie Mittelalter war die Zeit erfüllt, das Leben des einzelnen und der Gemeinschaft war auf Gott hingeordnet und sein Reich, das nicht von dieser Welt ist. Der Christ wartet auf keinen anderen Messias mehr, er i s t schon erlöst.

Erst die Renaissance war die Geburtsstunde c1 s modernen materialistischen Fortschrittsglaubens, dessen Züge in der Aufklärung ihre charakteristische Prägung erhielten und der in brüsker Abwendung vom Christentum im 19. Jahrhundert seine größten Triumphe feierte. Die Menschenrechte der Französischen Revolution, neue Erfindungen, industrieller Aufschwung, wirtschaftliche Expansion, ungeheure Vermehrung der Bevölkerungszahl — waren sie nicht ein schlagender Beweis dafür, daß die Menschheit nun endlich auf dem besten Weg zum unbekannten Ziel des Fortschritts ist? Wenn sie sich auch über die Richtung des einzuschlagenden Weges nicht immer einig war. Lange wollte die europäische Menschheit die warnenden Zeichen des moralischen Verfalls^ der sozialen Spannungen, der Kriegsgefahr nicht verstehen — heute steht sie verstört am Grabe ihrer Hoffnungen. Der alte Fortschrittsglaube ist gerade in seinen historischen Geburtsländern stark ins Wanken geraten, eine größere Rolle spielt er noch in Amerika und Rußland, den Ländern mit stärkerer innerer Expansionskraft. Wir Christen haben keinen Anlaß, ihm nachzuweinen. Hat er doch den Menschen ein kostbares Gut, den Glauben, genommen und ihnen dafür die billige Scheidemünze einer materialistischen Utopie in die Hand gedrückt. Doch die öffentliche Meinung ist träge und der vi?lgerühmte Forts diritt spielt auch heute noch in der politischen Phraseologie und im Sprachgebrauch der oberflächlichen Tagespropaganda seine etwas verschlissene Rolle weiter. Noch freut sich der Zeitgenosse, wenn er von einem neuen Flug-r^kord hört und bedenkt nicht, daß sein Urgroßvater mit der Postkutsche ohne Schwierigkeiten Reisen unternehmen konnte, die ihm ganz und gar verwehrt sind.

Die Abstammungslehre der biologischen Wissenschaft (etwas tendenziös auch „Entwicklungslehre“ genannt) wurde durch lange Zeit und wird auch heute noch vielfach in ein ganz mißverständliches Verhältnis zum Fortschrittsglauben gebracht. Herbert Spencer, ein Klassiker des Fortschrittsgedankens, prägte die Ausdrücke „evolution“ und „survival of the fittest“ und verwendete die biologsxhen Theorien mit weltanschaulicher Tendenz zur Begründung einer Fortschrittsethik. Die Abstammungslehre wäre niemals mit soviel Aufsehen in den Streit der Meinungen hineingezogen worden, wenn nicht eine Flut von mehr oder weniger mißverständlichen und gefühlsbetonten Deutungen ihrer Theorien jede klare Sicht auf ihren rein erfahrungswissenschaftlichen Charakter zerstört hätte. Manche Biologen selbst sind allerdings nicht ganz schuldlos an dieser Begriffsverwirrung Bezeichnend in diesem Zusammenhang erschien mir die in einer Diskussion kürzlich geteilte Frage eines Geisteswissenschaftlers: „Ja, hat denn die Biologie die Entwicklung des Vollkommenen aus dem Unvollkommenen nicht als Naturgesetz aufgestellt?“ Die Biologie als reine Erfahrungswissenschaft muß es unbedingt vermeiden, ihre Aussagen in derart allgemeinen Sätzen von philosophischem Charakter zu formulieren. Die Abstammungslehre ist ein Komplex von Theoien„ die es uns gestatten, die beobachtete For-menmannigfaltigkeit im Organismenreich, die vorhandene Anpassung der Organismen an ihre Umwelt und die Tatsachen der Variabil'tät und Vererbung unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zu betrachten. Sie erreicht dieses Ziel durch Beschreibung des Lebendigen als „Geschehen“ und nicht als „Zustand“. Sie ist 4urcn ibren großen heuristischen ¥e-t zu einem unverlierbaren Bestandteil der wissenschaftlichen Biologie geworden, ihre Aussagen eignen sich aber ebensowenig wie andere erfahrungswissenschaftliche Aussagen zur Formulierung philosophischer Werturteile. Für die Abstammungslehre ist kein Organismus „vollkommener“ als ein anderer, ihr einziges Kriterium ist der biologische Erhaltungswert und dieser war auch bei den angenommenen Vorfahren der heute lebenden Formen gegeben, sonst hätten sie nie gelebt. Die Abstammungslehre nimmt an, daß klimatische und geographische Veränderungen, die Notwendigkeit der Erschließung neuer Lebensräume und neu eintretende Erschwerungen im Kampf ums Dasein die Mannigfaltigkeit der Anpassungen bewirkt und damit immer wieder zur Ausgliederung spezialisierter Formen geführt hat. Diese sind wir infolge ihrer komplizierteren Organisation als „höher stehend“ zu bezeich nen gewohnt, ohne damit ein Werturteil zu verbinden. Denn neben ihnen beweisen ja auch einfache und ganz einfach organi sierte Lebewesen ihre Lebensfähigkeit im Rahmen ihrer Umwelt. Die Abstammungslehre nimmt ja auch vielfach eint stammesgeschichtlich jüngere Vereinfachung der Organisation als Anpassung an eine bestimmte Lebensweise an. Aus all dem läßt sich jedenfalls keinerlei philosophisches Prinzip herauslesen, das zur Begründung eines Fortschrittsglaubens beitragen könnte. Diese Verbindung war der Abstammungslehre nicht zuträglich, hat sie vielfach in Mißkredit gebracht und fremde Elemente in sie hineingetragen. So wurde sogar innerhalb der Abstammungslehre die Alternative zwischen srlektionistischer und lamarckisti-scher Bewirkung der Anpassung mit Fortschrittsglauben und Schicksalsghuben, mit Materialismus und Idealismus, in einen ganz und gar mißverständlichen Zusammhang gebracht.

Abgesehen von diesen Überlegungen war es prinzipiell verfehlt, die von der Abstammungslehre angenommenen Veränderungen in der Stammesgeschichte der Organismen mit dem in Zusammenhang zu bringen, was man als „Entwicklung“ oder „Fortschritt“ in der menschlichen Gesellschaft zu bezeichnen pflegt. Dort bandelt es sich um die Annahme von erblichen Änclcrun-gen. de im Laufe sehr langer Zeiträume zur Entstehung neuer Arten führt. Hier aber handelt es sich um Änderungen in der sozialen und kulturellen Struktur der. Menschheit oder bestimmter Kulturkreise der Menschheit, die in relativ kurzer Zeit ablaufen und bestimmt nicht mit wesentlichen Änderungen im Erbgefüge dieser Menschern einhergehen, sondern von ganz anderen Faktoren beherrscht werden. Ihre wissenschaftliche Untersuchung ist Aufgabe der Kulturgeschichte und Soziologie, ihre ethische Wertung Sache der Weltanschauung. Es Ist vielfach darauf hingewiesen worden, daß die Abstammungslehre gerade zur Zeit der höchsten Blüte des Fortschrittsglaubens entstanden und daher im wesentlichen aus der sozialen Struktur dieser Zeit erklärlich ist. Ich glaube, daß die Biologie auf jeden Fall ein Theoriengebäude dieser Art geschaffen hätte, wie ja auch die Hauptgedanken der Abstammungslehre als nicht zeitgebundener Bestandteil der biologischen Wissenschaft, stets bestehen bleiben werden Gewjsse Formulierungen, vor allem aber die ganz mißverständliche Belastung der Abstammungslehre mit weltanschaulichem Beiwerk und die ganze erregte Diskussion darüber, sind allerdings eine zeitgebunden Erscheinung und soziologisch aus der europäischen Geisteslage des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu erklären.

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