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Digital In Arbeit

Fräulein, bitte…

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ZEHN MINUTEN VOR NEUN UHR. In dem Nahrungsmittelgeschäft nächst einer der belebtesten Kreuzungen Wiens, Mariahilfer Straße-Neubaugasse, ist die „Morgenspitze“ bereits vorüber. Die Verkäuferinnen haben aber keine Zeit, in den großen Spiegel zu schauen, der verlockend gegenüber dem Längspult hängt — denn nun kommen bestimmte Lieferwagen, und durch die offene Türe fließt unerbittlich die kalte Außenluft. Kisten poltern beim Niedersetzen, Schachteln wachsen schnell zu kleinen Türmen an — das alles will aber sofort abgebaut und verstaut werden. Inmitten der eifrigsten Arbeit — die Gesichter haben sich leicht gerötet, und widerspenstige Härchen hängen in die Stirnen — fährt vor dem Geschäft ein Personenwagen vor, ein Herr steigt aus, sehr elegant aussehend, und selbstsicher. Ich halte ihn fü den Chef. „Nein“, sagt die blonde Sabine zu mir. „Das ist nicht unser Chef. Der da mit unserer .Ersten spricht, ist nur ein Vertreter.“ Es ist erstaunlich, welche Übersicht man über einen Vorrat an Waren haben muß, um ohne besonders nachzusehen, die Bestellung aufgeben zu können, wie die „Erste" eben. Sie schnurrt eine Liste herunter, wie ein Abc-Schütze das kleine Einmaleins. „Fräulein, bitte sagen Sie, warum haben Sie solange schon keinen Juice bestellt?“ fragt der Vertreter. „Weil die Leute jetzt keinen trinken“, antwortet die „Erste“ schlagfertig.

FRÄULEIN, BITTE… Diese einleitenden Worte, auf die unzählig viele Fortsetzungen, mit Wünschen, mit Beschwerden, mit Fragen beladen, binnen drei Stunden des einen und während eines Nachmittags des folgenden Tages zu hören waren, gleichen der Introduktion eines Walzers. Aufforderung zum Tanz. Diese Worte sind verschiedener Tonart, so ungleich wie die Charaktere der Menschen, ln dem Wäschegeschäft auf der Mariahilfer Straße, das ich zwanzig Minuten nach der schlagfertigen Antwort betrete, weilt kein Kunde. Die Mädchen, von einer elegant aussehenden Dame mittleren Alters beaufsichtigt, stehen teils an den Verkaufstischen (sie haben miteinander ein interessantes Gespräch geführt, das sah ich vorher durch die Glasscheibe der Eingangstüre), teils kramen sie in Schachteln Wie noch oft an diesem und am folgenden Tage, werde ich, das liegt nahe, für einen Kunden gehalten. „Fräulein, bitte ..fange ich an und muß lächeln, weil ich mich derselben Worte bediene, die ich vorher gehört. „Sie wünschen?“ kommt als Antwort. Nun, da das Geschäft kundenleer war, haben wir eine Viertelstunde geplaudert (von der bewußten Dame — siehe vorhin — beaufsichtigt, und mit zusätzlichen Auskünften versehen). Welcher Kunde ist in dieser Branche der liebste — so ungefähr lautete gleich eine der ersten Fragen. Und die Antwort lautete: Der Mann. Gründe: er weiß zumeist genau, was er will, nennt oft dazu noch eine Preisspanne: er ist nicht ungehalten, wenn die Ware dann doch etwas mehr kostet; er läßt sich beraten; er hält sich nur kurze Zeit auf — ein Einkauf ist ihm reine Zwecksache; kurz gesagt, er macht nicht viele Geschichten. Er ist, und das will für einen Arbeitstag etwas bedeuten, früh am Vormittag genau so freundlich zur Verkäuferin wie am späten Nachmittag, wenn er möglicherweise selbst von der Arbeit kommt. „Und was ist es mit der Behauptung von dem Tauschgeschäft nach Weihnachten, das die Männer durch Unkenntnis von Farbenwünschen oder Größen verursacht haben sollen?“ frage ich zuletzt. „Das ist übertrieben. Wenn es nach Weihnachten mehr Umtausch gibt als sonst, dann nicht zuletzt auch dann, weil die Frauen bei Freundin- nah ein Geschenk gesehen haben, das ihnen lieber wäre.“ Und der Mann? Nun. der Mann, höre ich, der ist darüber etwas verstimmt.

DIE BRÜNETTE LISA (sie trägt ein kleines Metallschild mit ihrem Vor

Hinauf und hinunter: wie oft im Tagt

namen auf dem blauen Arbeitsmantel) hat vielleicht nur deshalb so freundlich über die Männer geurteilt, weil eben — das ist schon angeborener Kundendienst - ein Mann mit ihr sprach, ln einem Warenhaus hat man sich eine halbe Stunde später in der Damenkleiderabteilung und auch in jener für Schuhe anerkennend über Frauen geäußert, vor allem über solche, die selbst berufstätig sind. Ein Abteilungschef des sehr bekannten großen Hauses auf der Mariahilfer Straße hat sich sogar Beobachtungen über das Verhalten von Kunden notiert. „Wozu?" will ich wissen. „Die verwenden wir bei der Schulung neu eintretender Verkäuferinnen, und wir haben mit dieser psychologischen Instruktion gute Erfahrungen gemacht.“ Psychologie — das wird überhaupt bei den namhaften Firmen groß geschrieben. Man kann nur sehr vorsichtig, mit einer gehörigen Dosis Fingerspitzengefühl, etwa in der Wäscheabteilung, einem Herrn ein attraktiv aussehendes Unterkleid ausreden, nachdem man durch behutsame Fragen erfahren hat, daß dieses Geschenk einem Mädchen von siebzehn Jahren zugedacht war, das er erst vier Monate kannte. „Mir hat er nicht geglaubt“, sagte der Abteilungschef, „daß ein Gentleman einer Dame, die er erst so kurze Zeit kennt, einer Dame, der er — einstweilen — noch in keiner Weise verbunden ist, so etwas nicht schenkt. Ich habe da eigentlich den Erzieher spielen wollen, obzwar das, was der Herr später kaufte, bedeutend billiger war und ich gegen die Umsatzhöhe einen Schlag führte. Aber etwas angeschlagen war sein Empfinden doch auch; endgültig hat es erst unsere Verkäuferin vermocht, ihm den ersten Wunsch auszureden. Und zwar auf dem Umweg, daß sie sich nach der Haarfarbe der Dame erkundigte und behauptete, eine Garnitur von Schals würde sich besser als erstes Geschenk eignen.“

DIE VERKÄUFERIN, die dieses kleine Kunststück zuwege brachte, ist übrigens vielseitig gebildet. Sie hat die Matura eines Realgymnasiums, beschäftigt sich in ihrer Freizeit mit Modezeichnen und spielt Bratsche in einem Amateurorchester. Sie ist auch in der Literatur bewandert. „Nur ganz speziell“, fügt sie bescheiden hinzu, denn ihr Steckenpferd ist die

Sammlung von Warenhausromanen und Erzählungen aus der Welt des Verkaufs. Zeitlich befindet sie sich gegenwärtig schon im vorigen Jahrhundert bei dem verschollenen Namen Iriitt Eckstein. Aber sie zählt neben Elfried« Ziering. Neumann-Reinhart und Preis auch Steguweit und Fallada auf. Sie wundert sich, warum diese Art Roman so sehr in die Kolportage (sie sagt „Leihbibliothek“) abgeglitten ist, wobei die Namen Panhuys und Böhme fallen. „Wir haben wirklich andere Sorgen“, sagt Fräulein Margit dazu. „Fräulein, bitte..ruft es, und sie

eilt ans andere Ende des langen Verkaufspultes.

DIESE SORGEN SIND VIELFÄLTIG. Da ist einmal die Arbeitszeit Auf der einen Seite ist es den Verkäuferinnen klar, daß die Fünftagewoche vielen Berufstätigen ermöglicht, Einkäufe am Samstagvormittag zu machen, besonders jenen Menschen, die am Stadt

rand oder in der Nähe Wiens wohnen. Auf der anderen Seite aber beneiden sie die Beamten und Arbeiter um die Fünftagewoche. Mir ist an einer Stelle die zurückgelegte Zahl von Wegkilometern vorgerechnet worden, die eine Verkäuferin täglich absolviert; dazu nannte man die Zeit des Stehens („Verkäuferinnen, die sitzen, sind nicht anziehend“, meinte der Chef eines Textilhauses im dritten Bezirk). „Glauben Sie mir”, klagte Fräulein Brigit in der Kärntner Straße, „ich brauche am Sonntag keinen Ausflug zu machen. Ich bin todmüde. Ich glaube manchmal, die Beine seien vom Knie abwärts abgestorben. Die Schritte über die Stiegen der Stadtbahn auf der Fahrt nach Hause sind eine Mühe nach dem Leiternsteigen im Geschäft." In der Aiserbachstraße hat sich eine Verkäuferin zwar nicht gerade beklagt, aber sie hat es doch hörbar bedauert, daß sie wegen des Geschäftsschlusses und der folgenden Aufräumearbeiten bei frühem Opernbeginn immer den ersten Akt versäume. „Wenn wir um fünf Schluß machen könnten! Umziehen kann ich mich schon im Geschäft, denn nach Hause zu fahren ist wegen der Entfernung unmöglich " Die Entfernungen des Arbeitsortes vom Wohnort spiegeln sich auch im Leben der Verkäuferinnen. Die Drogistin und das Fräulein, das, ein paar Minuten entfernt, eben gespannt auf die Apothekerwaage blickten: beide verfahren täglich zwei Stunden vierzig Minuten. Die Magistra sagte: „Wenn man die Sonn- und Feiertage und die Urlaubszeit abrechnet, kommt man beinahe auf einen Monat im Jahr, den wir unterwegs verbringen. Was soll ich während der Mittagspause? In ein Kaffeehaus gehen und Geld ausgeben? Hier in der Umwelt von Chemikalien essen? Nicht einmal einen kleinen Park habe ich in der Nähe, wo ich im Sommer mittags ein wenig ausruhen könnte. Da beneide ich meine frühere Schulkollegin, die in einem Betrieb als Verkäuferin angestellt ist. der einen Speise- und Aufenthaltsraum, Ja sogar Duschen besitzt. Eine andere Kollegin arbeitet in einem Modegeschäft, das eine Dachterrasse und zwei Sonnenschirme in der guten Jahreszeit während der Mittagspause den Verkäuferinnen zur Verfügung gestellt hat.

ES GIBT UNTERNEHMER, die in solcher Art, wie vorhin geschildert, von vorbildlicher sozialer Gesinnung sind, und darüber hinaus noch an den persönlichen Sorgen der Angestellten in kaum glaublicher Weise Anteil nehmen. So etwa gleich jener, mit dem

ich knapp vor der Mittagspause in der Inneren Stadt sprach. Er beginnt schon bei dem Erscheinen der ersten Prospekte der Reisebüros die Mitteilungen zu sammeln, er macht sich die Mühe, selbst nachzufragen, gibt seine eigenen Erfahrungen dazu und schlägt, noch ehe die Urlaubslisten zusammengestellt werden, preiswerte Aufenthalte für seine Verkäuferinnen auf

dem Mitteilungsbrett an („wo sie garantiert niemand treffen, der fachsimpelt“, sagt er, der mit einem Plan gegenseitigen Austausches aus verschiedenen Gründen in einigen nachgefragten Ländern, „natürlich durch die Amtsmaschinerie“, bemerkt er, Schiffbruch erlitten hat). Auf die Frage nach dem Gehalt sind die Firmen sehr zurückhaltend. Ein Fremder kommt ihnen mit dieser Frage beinahe wie ein Betriebsspion vor. Nun. es gibt ja andere Stellen, die. zuverlässig und kühl, sachlich diese Frage nach dem Inhalt des Gehaltssäckchens beantworten. Um bei den Pharmazeuten zu beginnen, die ein eigenes Besoldungsinstitut besitzen, das die Gehälter auf Grund eines Vorstandsbeschlusses auszahlt: das Grundschema beginnt bei 2502 S und reicht bis 5862 S (wissenschaftliche und praktische Vollausbildung selbstverständlich). Dazu kommt ein vom Unternehmer für alle Betriebe und alle Altersklassen gleicher Beitrag von 240 S. Das Studium ist doch etwas wert; denn im Textilfach wird einer Verkäuferin nach der Auslehre ein Anfangsgehalt von 1231 S bezahlt, das nach Berufsjahren entsprechend steigt. Noch niedriger liegen die Gehälter beim Nahrungsmittelkleinhandel. Das Mädchen, von dem eingangs der Reportage die Rede war, hat mit etwas mehr als 1000 S angefangen. ..Wenn man das erste verdiente Geld in der Hand hat", so meint das Mädchen, „kommt es einem viel vor. Mir geht es ja noch besser als manchen anderen Schulfreundinnen, denn ich bin bei meinen Eltern, die mir das ganze Geld, das ich ihnen gleich am ersten Gehaltstag überreicht habe, wieder zurückgegeben haben. Ich bin bald daraufgekommen, wie weit man mit diesem Tausender springt. Die Verkäuferin in dem Wäschegeschäft auf der Mariahilfer Straße hat. als gelernte Kraft, mit 1300 S begonnen (der Tarif liegt bei 1231 S). Ungelernte fangen mit 1100 S an.

ZEHN MINUTEN VOR SECHS UHR ABENDS. Wenn man eine der Wiener Geschäftsstraßen entlanggeht und nicht in die Auslagen, sondern durch die Glasscheiben der Eingänge sehnut, sieht man müde, verschlossene Gesichter. Wieder ein Tag vorüber! Bei der Kasse wird Abschluß gemacht. Die Aufräumefrauen warten schon mit Kübel und Besen. Sie haben ihre Kinder schlafen gelegt, die Männer mit Essen versorgt, ihre Arbeit beginnt, wenn die Verkäuferinnen in die Mäntel schlüpfen Vor den Portalen wartet zuweilen jemand. Zu viel mehr

als zum Nachhausebegleiten - oft nur bis zur Straßenbahn - reicht die Stimmung selten. Aber für den Samstag und Sonntag wird vereinbart… Die vorhin abgespannten Mienen leuchten seltsam im bunten Schein der Neonlichter. Freude wird als Artikel in keinem Geschäft geführt. Sie ist so teuer, daß man sie verschenken muß. Nicht wahr, Fräulein, bitte?

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