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Fräulein vom Amt

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WELCHE IST DIE UNPERSÖNLICHSTE DIENSTSTELLE ÖSTERREICHS? Antwort: Die Telephonzentrale, denn man spricht zwar mit ihr, aber man bekommt sie normalerweise nie zu Gesicht. Manchmal, wenn man Auskunft, Kundendienst oder „Störung“ angerufen hat, und wenn der Hörer wieder auf der Gabel liegt, denkt man einige Augenblicke nach: Mit wem habe ich jetzt wohl gesprochen? Denn zur Stimme von der Auskunft gehört ein ganzer Mensch ...

Was würde die Stimme von der Auskunft wohl erwidern, würde man sie nicht um eine Nummer bitten, sondern um ein Rendezvous? Aber wer wagt das schon? Da ist es schon besser, man macht sich zwecks Lokalaugenscheins persönlich auf den Weg.

WIE EIN ERSTARRTER WASSERFALL ergießen sich die Kabelstränge aus ihren Betonrohren in den Keller der Telephonzentrale, werden in zehn-tausende Paare zerteilt und zu den Ganglienzellen dieses Riesengehirns geführt, zu den einzelnen Anschlußstellen, die in einem Labyrinth von Stahlgestellen offen vor uns daliegen. Ein kurzes Summen, die ruckartige Bewegung eines kleinen Metallarmes, ein Teilnehmer wählt. Dann herrscht Ruhe

— die Verbindung ist hergestellt. Die Stromstöße pulsieren hin und her, wir sehen sie nicht, hören sie nicht, wissen nicht: Werden hier Geschäfte abgemacht oder Belanglosigkeiten ausgetauscht? Schimpfworte gewechselt, Zärtlichkeiten von Ohr zu Ohr geschickt?

Hier entspricht die „Schale“ nicht dem „Kern“, denn die Supertechnik des modernen Fernsprechwesens ist in einem völlig veralteten Gemäuer untergebracht, in einem großen steinernen Haus in der Lehärgasse, ganz im Stil der Jahrhundertwende. Im Hausflur eine Marmortafel mit der Jahreszahl 1898 mit Bild und Namen des Bauherrn: Franz Joseph I. In den leicht düsteren Sälen hinter der steinernen Fassade und in den Kellern dieses Hauses laufen die Fäden zusammen, die uns mit dem gewünschten Gesprächspartner verbinden, wenn wir den Hörer abheben und die Nummernscheibe drehen.

Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde jede Verbindung manuell mit dem Stöpsel hergestellt, so wie heute noch in so mancher veralteten Hauszentrale. Vier- bis sechshundert Mädchen saßen damals in den mit Stuckdecken ausgestatteten Sälen. Hätte die fortschreitende Technik das Telepho-nieren nicht automatisiert, so wären heute tausende Beamtinnen zur Herstellung von Verbindungen notwendig

— und trotzdem würde das Wiener Telephonnetz täglich von neuem überlastet zusammenbrechen. Einige von den sechshundert Handvermittlerinnen von einst arbeiten auch heute noch hier in der Lehärgasse. Freilich nicht mehr mit „dem Stöpsel“, sondern größtenteils bei Auskunft und Kundendienst.

„IM AUGENBLICK SIND ALLE LEITUNGEN BESETZT. Seien Sie, bitte, nicht ungehalten, wenn Sie sich noch ein wenig gedulden müssen, Sie werden sofort nach Freiwerden der Leitung von der Beamtin bedient.“

Zehnmal, zwanzigmal, vielleicht sogar hundertmal hat jeder Wiener, der öfter telephoniert und die Dienste des „Fräuleins vom Amt“ benötigt, diese auf Tonband aufgenommenen Sätze gehört. Ob er nun die Auskunft, Rufnummer 16, oder den Kundendienst, Rufnummer 18, oder die Störung, Nummer 41, wählt.

Manchmal hört man diese Sätze fünfmal, zehnmal hintereinander — meistens dann, wenn man es besonders eilig hat. Manchmal hört man nur zwei, drei Worte des Textes - beispielsweise dann, wenn man gar nichts von der Auskunft wissen will, sondern nur einmal den Tonbandtext bewußt „abhören“ möchte. Fassungsloses Staunen schwingt dann zunächst in der Stimme des Fräuleins vom Amt, wenn es hört, daß man nicht mit ihm, sondern nur mit dem „Warteband“ verbunden werden wollte. Aber rasch weiß sie einen hilfreichen Rat: „Rufen Sie doch den Kundendienst an! Vielleicht ist diese Nummer überlastet. Wir haben im Augenblick weniger zu tun.“ ,

UNGEFÄHR 12.000 ANRUFE müssen täglich von den „Fräuleins vom Amt“ entgegengenommen, 12.000 Anfragen beantwortet werden. Zu Spitzenzeiten füllen 60 Beamtinnen in mehreren Reihen hintereinander den Saal. Pult an Pult. Jede hat ihren eigenen Telephonhörer, den sie mitnimmt, wenn sie ihren Platz der Kollegin übergibt, welche sie ablösen kommt. Jede Beamtin hat ein Telephonbuch vor ihr liegen — freilich ein Telephonbuch, in dem jeder bedruckten Seite eine leere gegenübersteht und das täglich auf den neuesten Stand gebracht wird. Denn jeden Tag werden durchschnittlich 200 Nummern geändert, aufgelassen oder neu eingeschaltet.

Dabei gibt es Kollisionen, wenn auch nur sehr selten ein neuer Teilnehmer mit seiner neuen Telephonnummer eine solche Bürde auf sich nimmt, wie jener Engländer, der sich kürzlich in seiner Wiener Wohnung einen Telephonapparat anbringen ließ. Da freie Leitungen in Wien rar sind, wies man dem Mann eine Nummer zu, die ein anderer Teilnehmer infolge Wohnungswechsel aufgegeben hatte. In den Telephonbüchern der Auskunftsbeamtinnen wurde die Nummernänderung selbstverständlich ordnungsgemäß vermerkt, doch wer, wie es schließlich üblich ist, die Nummer des alten Teilnehmers im Telephonbuch suchte, statt das Fräulein vom Amt zu bemühen, fand dort — die neue Nummer unseres Engländers. Und wählte daher falsch und wurde falsch verbunden. Wäre der frühere Inhaber jener Nummer ein ruhig dahinlebender Durchschnittsbür-ger gewesen, und der neue Besitzer jener Nummer alle paar Tage von einem Freund aneerufen worden, der den ehemaligen Besitzer dieser Nummer sprechen wollte, so wäre wahrscheinlich nicht viel dabei gewesen. Doch der Vorbesitzer jener Nummer war ein Rettungsdienst und so sah sich unser Engländer als höflicher Mensch gezwungen, Nacht für Nacht einer ganzen Reihe aufgeregter Anrufer mitzuteilen: „Sie sind falsch verbunden, rufen Sie, bitte, Nummer...“ Nur, weil ein Telephonanschluß vergeben wurde, während er noch unter einem anderen Namen im Telephonbuch eingetragen war. . .

Oft muß das Fräulein vom Amt, das gar nichts dafür kann, für solche Unzukömmlichkeiten büßen. Da muß sie dann Vorwürfe über sich ergehen lassen, weil eine falsche Nummer im Telephonbuch steht oder weil die Leitung zu lang besetzt war oder weil einer einen anderen nicht erreicht...

Wo der Auskunftsbeamtin das Namensverzeichnis nicht genügt, hilft das große Häuserverzeichnis oder die „Schlagerkartei“. Die Beamtin steht auf, zieht die Stecker ihres Hörers aus den Buchsen, geht zu einem der auf einem langen Brett aufgestellten Zettelkästen, verbindet sich mit einem Handgriff wieder mit dem wartenden Teilnehmer und sagt:

„Leider, in diesem Haus ist kein Herr Vogel angemeldet!“ oder: „Meinen Sie die Parfümerie oder das Kohlengeschäft?“ oder: „Bedaure, unter Anni ist da niemand eingetragen. Sie müßten mir schon auch den Familiennamen der Dame sagen.“

Das alles gibt es, das alles kommt täglich und stündlich vor. Man hört es an der Stimme, die sich mit dem Wort „Auskunft“ meldet: Sie kann kaum noch etwas erstaunen. Höchstens, wenn sich jemand für die Auskunft besonders freundlich bedankt.

ZWEI STOCK TIEFER GEHT ES RUHIGER ZU, etwas ruhiger wenigstens. Hier ist der Kundendienst untergebracht. Hier rufen Leute an, die um vier Uhr früh — oder auch um vier Uhr nachmittag — geweckt zu werden wünschen. Hier melden sich Teilnehmer, die vor unangenehmen Anrufern geschützt zu werden wünschen. Oder die daheim anrufenden Freunde ausrichten lassen, in welchem Kaffeehaus man Sie erreicht. Oder die einfach Auftrag erteilen: „Sagen Sie jedem Anrufer, der Herr Doktor sei verreist, ab 15. Februar bin ich wieder zu erreichen

Der Kundendienst kommt mit zehn Beamtinnen aus. Voraussetzung für diese Berufssparte: Mindestens Matura. Denn der Kundendienst ist nicht nur zum Aufwecken und zum Ausrichten da, sondern er ist auch, damit längst zum internationalen Vorbild aller ähnlichen Einrichtungen auf der Welt geworden, eine Art Wiener Volksorakel. Jede nur mögliche Frage wird hier — wenn möglich — sofort, spätestens aber am nächsten Tag beantwortet.

Da wollte zum Beispiel eines Tages ein Mann' wissen, wie lange eine Mäusemutter ihre Jungen säugt. Ihm war schnell zu helfen, „Brehms Tierleben“ steht im Kasten. Ein anderer erkundigte sich, ob der Wartesaal des Grazer Hauptbahnhofes geheizt sei. Schwieriger zu beantworten war die Frage: „Welcher Romanheld bringt sich aus Weltschmerz um und trägt Stulpenstiefel?“ Glück gehabt — Werther gelesen. Aber was sollte man dem Manne sagen, der den Dollarkurs für Kaurimuscheln wissen wollte, oder jenem, der ein Problem gelöst haben wollte, an dem die Mathematik vorläufig verzweifelt?

Sehr oft muß der Kundendienst — gegen geringe Gebühr — beim Lösen von Kreuzworträtseln mithelfen oder feuchtfröhliche Wetten entscheiden, so kommt manche höchst seltsame Frage zustande. Die Mädchen von der Rufnummer 18 haben den Ehrgeiz, möglichst immer zu antworten — und wenn möglich, immer richtig. Zu ihrer Ausrüstung gehört nicht nur ein Kasten voll mit Nachschlagwerkcn aller Art, sondern auch eine Liste mit den Namen und Telephonnummern hilfsbereiter Fachleute, an die man sich notfalls wenden kann.

OHNE HUMORISTISCHE EINLAGEN, dafür um so verantwortungsvoller — das ist die Arbeit jener Beamtinnen, mit denen man verbunden wird, wenn man die Nummer 41 wählt: Die „Störung“. Ein Wunderwerk der Organisation. In Sekundenschnelle wird die Verbindung von Beamtin zu Beamtin hergestellt, von Zentrale zu Zentrale, und schon liegt ein Karteiblatt da, auf dem jeder Anruf des Teilnehmers bei der Störung vermerkt, jede Schwierigkeit, die ihm sein Apparat bereitet hat, eingetragen ist. Im Keller wird dann der Weg seines nicht zustande gekommenen Telephongespräches verfolgt und nachgeprüft — jeder einzelne Anruf passiert auf dem Weg von Hörer zu Hörer bis zu 100.000 Lötstellen, bevor sich die elektrischen

Impulse wieder in Schallwellen verwandeln.

Trotzdem heißt es meistens schon , nach ein, zwei Minuten: „Die Nummer spricht gerade. Sie müssen sich etwas gedulden“ oder: „Es scheint am Apparat des anderen Teilnehmers zu liegen, wir schicken einen Monteur hin!''

UND WO IST DIE MÄRCHENTANTE, die uns auf Nummer 15 60 ihre Geschichten erzählt, wo hat der Wetterfrosch von der Nummer 15 66 seinen Sitz, und wo wird die Schallplatte der Woche ausgewählt, die wir auf Nummer 15 62 hören können, einmal klassische Musik, dann wieder „leichte“ Musik?

Treppauf, treppab, gangauf, gangab, hinter dieser Tür oder hinter jener Tür, die Märchentante suchen wir in der Telephonzentrale in der Lehärgasse vergeblich. Sie hat sich gut versteckt. Aber sie haust durchaus nicht im Wald, in einem Lebkuchenhaus, und sie ist auch nicht alt und hat keine lange Nase. Die Märchentante bewohnt ein freundliches Zimmer in einem großen Haus auf dem Schillerplatz. Und sie hat auch andere Dinge zu tun, als Märchen auszusuchen und zu erzählen: Sie übernimmt Wetterprognosen, Toto-tips und Resultate, Kinoprogramme und Wasserstandsmeldungen und eine Menge anderer Angaben für die verschiedenen Tonbandkundendienste der Post-und Telegraphenverwaltung, die auf der ganzen Welt nicht ihresgleichen haben und immer wieder von Fachleuten aus aller Herren Ländern studiert werden. Sie haben sich nämlich als ausgezeichnete Einnahmequelle erwiesen und die ungezählten Stunden, die Tag für Tag da mit bloßem Zuhören vertelephoniert werden, bringen die Anschaffuneskosten für die Apparaturen innerhalb kürzester Zeit wieder herein.

Tag für Tag zieht sich die Märchentante in einen Glaskäfig zurück, um Wettervoraussagen, Kochrezepte und Märchen auf Band zu sprechen. Das Pult in diesem schalldichten Käfig sieht mehr nach Radiostation aus als nach Telephonzentrale.

In einem engen Raum nebenan nimmt ein großes Stahlgestell allen vorhandenen Platz in Anspruch: Darauf sind die Tonbandadapter angebracht, kleine Tonbandgeräte, auf denen sich die Spulen drehen, ohne Ende, stundenlang, tagelang, bis wieder ein neues Kochrezept, ein neues Märchen, eine neue Wettermeldung fällig wird.

LAUTLOS DREHEN SICH DIE TROMMELN MIT DEN KUNSTSTOFFBÄNDERN. Wer daneben steht, hört kein Wort von den Märchen, die da erzählt, von den Prognosen, die da mitgeteilt, von den Kinoprogrammen, die da immer von neuem heruntergehaspelt werden. Doch dreihundert Kinderohren, die, über ganz Wien verteilt, an den Telephonhörern hängen, sind auf unsichtbare Weise anwesend und hören das Märchen, von dem wir keinen Ton vernehmen. Elfen und Drachen, Kobolde und Zwerge, Heinzelmännchen, gute und böse Ritter erscheinen ihnen auch heute noch wunderbar. Daß man sich durch einen Druck auf einen Knopf und Drehen einer Nummernscheibe mit ihnen in Verbindung setzen kann, finden sie viel weniger erstaunlich.

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