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Frankfurt, ein Bücherbabel

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SIE SCHREIBEN IN ZEHN DEUTSCHEN ZUNGEN und sie reden auch so. Mehr urwüchsig oder mehr konstruiert, kühl oder mit Temperament, mir oder dir oder angeblich keinem nach dem Mund, und das alles sehr betont.

Sie reden über die Bücher, die sie geschrieben haben, schreiben oder zu schreiben gedenken, verlegt haben oder verlegen werden, die sie gelesen oder rezensiert haben oder nicht, die ein Geschäft geworden sind oder keins. Sie reden über die eigenen Bücher und über die der anderen, und die dritte Person, das ,.sie“ ist nur ein stilistisches Hilfsmittel, denn wer so schreibt, war schließlich selber dabei, bei der Frankfurter Buchmesse, diesem Bücherbabel, diesem Stimmengewirr. Alle reden viel, alle reden gescheit, dazu trinken sie Sekt, Sekt ist bei den Empfängen der Bestseller, mit Organgensaft schluckt er sich noch leichter, fast wie ein Maigret. Auch der Whisky hält bei den Empfängen seinen festen Abnehmerkreis, und der Geist wird in tausend Gesprächen verramscht.

Nichts gegen das sogenannte Verramschen, wenigstens vom Standpunkt des Lesers aus nichts, so kommt man manchmal zu den besten Büchern. Aber im Hause des Gehenkten redet man nicht vom Strick, in der Villa des Boxers nicht vom Tod im Ring, und in Frankfurt nicht von der Verwertung liegengebliebener Auflagen zu stark reduziertem Preis. Pardon also, pardon.

,jPardon“ sollte hier natürlich „Bitte um Verzeihung“ heißen, das galt nicht der in Österreich permanent mißliebigen satirischen Zeitschrift aus dem Hause Bärmeier & Nikei.

Apropos Bärmeier & Nikei, die bringen nun den Jules Verne neu heraus, und gleichzeitig bringt, wie es so üblich ist, auch der Insel-Verlag einen neuen Jules Verne heraus, ein ausgestopfter „Jules Verne“ saß auch in der Koje des erstgenannten Verlages, und wenn es in Frankfurt zur Buchmesse nicht nur Empfänge gegeben hätte, sondern auch einen Maskenball, dann hätte es wohl von Jules Vernes gewimmelt.

Man hätte natürlich auch als Einhorn gehen können (Walser: „Das Einhorn“, Suhrkamp) oder als schwarzgelber Vogel (Trost: „Auf den Spuren des Doppeladlers“, Molden), man hätte sich (aber wie?) als „Victor Charlie“ verkleiden können, denn unter diesem Titel schrieb Knöbl über den Vietkong (Molden), auch Ludwig XIV. wäre nicht aus dem Rahmen gefallen (Nancy Mitford: „Der Sonnenkönig“, Pier).

Dem zeitgeschichtlich Interessierten hätte sich ein hochaktuelles Kostüm angeboten: Ahnungsloser deutscher (deutsch-österreichischer?) Michel mit Schlafmütze und verkleisterten Augen. Werner Maser beweist ihm, wieviel man von alldem, was nach der NS-Machtergrei- fung geschehen ist, voraussehen konnte, wenn man eines der insgesamt rund zehn Millionen Exemplare von „Mein Kampf“ gelesen hatte (Maser: „Hitlers ,Mein

Kampf'“, Bechtle).

Doch wie gesagt, und vielleicht zum Glück, dieses Fest fand nicht statt.

ES GEHÖRT OHNEHIN BEREITS ZUM GUTEN TON, über den Rummel zu klagen, angesichts der vielen Bücher zu stöhnen und die vielen Empfänge „schrecklich“ zu finden.

Tatsächlich war. wie alles, auch die Frankfurter Buchmesse heuer noch größer. Rund 2600 Verleger aus mehr als 40 Ländern stellten 180.000 Titel aus, darunter 60.000 Neuerscheinungen. Dafür waren sechs große Hallen nötig, kein Besucher hat alles gesehen, freilich, wer wollte das schon.

So mancher sah überhaupt nur die Halle 4 von innen, dort stellten die schöngeistigen Verlage aus. Von ABC-Editions, Luxemburg, bis Zsolnay-Verlag, Wien.

Ich ging und ging, von Koje zu Koje zu Koje, blätterte und ging weiter und las und ging weiter, und als ich nach Wien zurückkam, fand ich auf meinem Schreibtisch die Gedichte von Jossif Brödskij, die mich selbst in Frankfurt elektrisiert hätten, wenn ich sie gesehen hätte, aber ich wanderte offenbar einfach dran vorbei.

Trotzdem — wenn irgendwo, dann kann man sich allenfalls in Frankfurt noch einen Überblick darüber verschaffen, was heute geschrieben und verlegt wird. Aber es gibt keine Garantie für den Leser, daß er in diesem Bücherdschungel nicht gerade das übersieht, was ihn am meisten interessieren würde, und keine Garantie für den Verleger, daß nicht gerade das Buch, das ihm am meisten am Herzen liegt, übersehen wird.

Sehr oft entscheidet die Kritik über sein Schicksal, ihr Einfluß ist in Deutschland ungleich größer als in Österreich. Sie entscheidet nicht, indem sie gut oder schlecht schreibt, sondern indem sie überhaupt schreibt — oder nicht.

Schlechte Rezensionen sind besser als gar keine Rezensionen, wütende Rezensionen sind oft sehr viel besser als wohlmeinende.

Die „Hornissen“ des Österreichers Handtke (Suhrkamp) wurden von einigen Kritikern in der Luft zerfetzt, aber sie schwirren durch alle literarischen Zirkel.

Der Roman „Der Baron und die Fische“ des Wieners Peter Margin- ter (Langen-Müller) liegt unbesprochen in den deutschen Redaktionen und ist praktisch nicht zu verkaufen. Ein schrulliges, ein skurriles, ein sehr österreichisches und ein sehr vergnügliches und spannendes Buch.

Hat es noch Chancen? Der gleiche Verlag veröffentlicht das Werk des Österreichers Drach. Das „Große Protokoll gegen Zwetschkenbaum“ drohte liegenzubleiben, eine einzige Rezension eines Prominenten in einer großen Zeitung verhalf ihm zum Erfolg.

Die weiteren Bände von Drach bleiben wieder liegen. Der Verlag ist optimistisch, die Zeit dieses Autors wird noch kommen. Ein Glück, wenn man es sich leisten kann, zu warten ...

österreichische Autoren haben es dem Vernehmen nach nun eben wieder etwas schwerer in Deutschland. Vor allem, wenn es sich um typisch österreichische Autoren handelt. Ausnahmen bestätigen die Regel.

DAFÜR NIMMT DER DEUTSCHE DEN DEUTSCHEN wieder zur Kenntnis. Der westdeutsche Verlag

Rütten & Loening und der ostdeutsche Verlag Rütten & Loening bitten gemeinsam ins amerikanische Intercontinental. Hermann Kant, DDR-Autor, Verfasser des Romans „Die Aula“, geht zum Rednerpult. Aus der linken Jackentasche lugt die Rede, eine mit Filzstift durch- strichene Seite kokett nach außen gewendet. Und dann geht’s der Kritik, der westlichen, an den Kragen, die Rede besteht nur aus Sätzen, Satzfetzen, aus dem Zusammenhang gerissenen Prädikaten, die solo durch die Gegend fliegen wie die Elektronen im ionisierten Wasserstoff, zeitweise stammt jedes Wort aus einer anderen Rezension.

Sagte Hermann Kant: „Sagte die FAZ ...“ Der westdeutschen Klatschkolumnisten liebstes Stilschluderkind darf also auch in der DDR ... Nebensache ... „Es geht um ein ostdeutsches Buch und um die westdeutsche Reaktion darauf.“

Und er zitiert drauflos, „am Ende dann, wenn die Elemente gezählt...." und „zerlegt sie bis ins Übersichtliche ..linientreu . ist er den einen, Partisan den anderen, was die Kritiker wirklich geschrieben haben, erfährt man nie, geschickt macht er das, er sagt, was die anderen sagen, oder tut wenigstens so, als sagte er’s, aber was sagt er selber? Uber die westdeutsche Reaktion auf sein Buch eigentlich nichts.

Die wirklich scharfen Rütten-&- Loening-Töne kommen aus dem Westen, von Herrn Geissler, Autor aus Hamburg: „Aber das ist nicht erlaubt, und was nicht erlaubt ist, tue ich nicht, ich lebe in Freiheit, und Freiheit ist Antikommunismus ..

Ein wenig leicht macht er sich’s.

Dazu wird Sekt gereicht.

INTERCONTINENTAL. FRANKFURTER HOF, SAVIGNY ... Verlage, die nicht in Frankfurt ansässig sind, empfangen in den großen Hotels. Die Buchmesse ist ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges für ganz Deutschland.

Für Kohlhammer tritt der pro minenteste Verlagsautor, Kardinal Bea, im Frankfurter Hof vor geladenen Gästen an das Rednerpult. Bea wurde zusammen mit Willem Visser’t Hooft der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Eine außerordentlich ehrenvolle Auszeichnung. Bundespräsident

Lübke kommt zur feierlichen Überreichung in die Paulskirche.

Zum Empfang des Kindler-Verlages reist Willy Brandt nach Frankfurt. Zusammen mit seiner Gattin nimmt Verleger Kindler das Defilee der Gäste ab. Pominenz, wohin man blickt.

Die meisten Verleger bitten zu einem formlosen Herumstehen mit dem Glas in der Hand. Der Sekt fließt in Strömen, dazu wird mit Maß und Ziel verzehrt, was gut und teuer ist. Natürlich kommen zu jeder Gesellschaft gleich Hunderte. Auch, wenn zwei oder drei Empfänge gleichzeitig stattfinden. Hunderte hier, Hunderte dort. Da staunt der Provinzler aus Wien.

Der deutsche Kleidungskonformismus macht während der Buchwoche vor den Toren Frankfurts halt. Die

Gäste kommen, wie es ihnen paßt. Brav und dunkel oder im Straßenanzug. Oder in Windjacke und Pullover. Das sind die Autoren.

Manche Verlage lassen sich auch etwas einfallen. Die Europäische Verlagsanstalt in Frankfurt bittet zusammen mit dem Europa-Verlag in Wien, mit dem sie auf einem gemeinsamen Stand ein anspruchsvolles Programm präsentiert, in ihr neues Domizil zu einem großen Äpfelweintrinken und Bratwurstessen, teils im Freien, teils im Haus. Die Rauchfahne vom Bratwurstrost ist sicherlich kilometerweit zu sehen.

Bei Rowohlt hingegen wird nicht geredet, bei Rowohlt passiert etwas. Happening. Finsterer Saal. Wer Lust hat, darf entzweigerissene „Bildmonographien“ (Ausschuß?) mit roter Farbe bemalen. Oder einige eigens für diesen Zweck bereitgestellte Damen und Herren mit frischer Milch begießen. Ausgepichte Nonkonformisten trinken die Milch.

UND RUND UM DIE BUCHMESSE ist Frankfurt auch noch da. Aber Frankfurt ist wie immer, das heißt: so modern wie noch nie.

Wieder etwas größer, wieder etwas höher. 1

Ich habe in einem Privatzimmer gewohnt, in der Walldörferstraße, die sich vom „Letzten Hasenpfad“ zur Wormserstraße erstreckt, nicht umgekehrt — die Austreibung der Hasen ist perfekt. Längst sind auf den Straßen die Fußgänger die Hasen.

Wenn man durch die Hallen der Buchmesse geht, wo sich die Menschen drängen, wo oft mehrere Fernsehteams zugleich ihre Kabel legen, wenn man die Empfänge besucht, wo ein einzelner Kameramann oder ein Radioreporter mit Mikrophon kaum noch auffällt, glaubt man, einen Tag nach ihrem Ende müßte Frankfurt eigentlich ausgestorben sein.

Doch es scheint kein Auto weniger durch die Straßen zu rasen, die Hotels sind weiterhin voll, der Besucherstrom verläuft sich, ohne ein Vakuum zu hinterlassen.

Eine knappe Woche konnte man glauben, der Nabel der Welt müsse ein schwarzer Satzpunkt sein.

Dann kommt die Autoausstellung oder die Photokina oder eine Veranstaltung der Kleiderhersteller oder eine Schuhmesse, und der Trubel beginnt von neuem.

Bücher braucht der Mensch, um leben zu können?

Natürlich. Bücher braucht er auch.

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