6747578-1967_14_12.jpg
Digital In Arbeit

Frankreich und der Nouveau Roman

19451960198020002020

DIE BLAUE VILLA IN HONGKONG. Roman von Alain Robbe-Grille t. Im Verla Carl Hanser, München. 190 Selten. DM 15.80. — ORTE. Von Michael Butor. Im S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main. 463 Seiten, DM 34.—.

19451960198020002020

DIE BLAUE VILLA IN HONGKONG. Roman von Alain Robbe-Grille t. Im Verla Carl Hanser, München. 190 Selten. DM 15.80. — ORTE. Von Michael Butor. Im S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main. 463 Seiten, DM 34.—.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Kolportage hat den Menschen entdeckt. Und erreicht. Jetzt entdeckt die Kunst die Kolportage. Denn wenn Alain Robbe-Grillet, dessen Werkbeispiele und poetologische Äußerungen über den französischen Literaturbereich hinaus als Programm des neuen Romans gelten, nun einen phantastischen Edelreißer vorlegt, so können wir uns darauf verlassen, demnächst mindestens zwei Dutzend James-Joyce-Bond-Thriller als neueste Literatur vorgelegt zu bekommen.

Der Inhalt der „Blauen Villa in Hongkong“ ist die billigste Kolportage. Eine mondäne Gesellschaft frequentiert die Partys einer gewissen „Lady Ava“ in einem Super-freudenhaus. Sex und Brutalität, Mord, Gift, Rauschgiftschmuggel, Agententum — alle Ingredienzen für das westliche Klischee „Hongkong“ sind vorhanden. In der Häufung aller möglichen Ausschweifungen ist nicht der geringste Platz für eine ethische Reflexion, geschweige denn einen moralischen Wert. Jenseits von Gut und Böse leben die Figuren im Wachen und Träumen einzig ihren Trieben.

Die Form, die diesen Inhalt rechtfertigen könnte, ist phantastisch, aber nicht gerade faszinierend. Räum und Zeit scheinen mit Hilfe von Assoziationsbrücken aufgehoben. Derselbe Mord passiert einige Male hintereinander in verschiedenen Variationen. Die Szenen wechseln schnell und unmerklich. Beschreibungen in präziser Realistik verschwimmen plötzlich zu nebulosen Gemeinplätzen. Die Erzähltechnik Robbe-Grillets ist dem Film stark verpflichtet und hat die „Gummilinse“ in den Roman übernommen.

Sofern miain dem Autor keine Spekulation auf Publikumsinstinkte unterstellen will, wären seine Absichten psychologisch zu deuten. Die modernen Massenmedien haben Archetypen im Unterbewußtsein der Gesellschaft erzeugt. Gewisse Klischees wurzeln nämlich sehr tief. Man müßte nur einmal einen Test im Bekanntenkreis anstellen, um herauszubekommen, ob etwa eine anständige Frau oder ein normaler Mann im Assoziationskomplex „Hongkong“ noch Plate hat Die geheimen Verführer haben Hongkong längst zu dem höllischen Jerusalem unserer verdrängten Sehnsüchte gemacht. Auf der Klaviatur dieses Hongkong-Orplid spielt nun Robbe-Grillet einen zynischen Schlager. Man gilt selbstverständlich als maßlos ungebildet, wenn man keinen Gefallen daran findet. Apollo bewahre uns vor dem Verdikt der Snobs!

Man erlaube mir bloß, vorsichtig anzudeuten, daß es außer „Hongkong“, wenn man so will, auch einige andere Archetypen gibt. Der Österreicher sitzt bekanntlich mindestens so oft und so lange in Grinzing wie der Hongkonger beim Opium. Man stelle sich vor, daß der „nouveau roman“ daraus ein Werk macht. Die Diskussion fiele nicht sonderlich literarisch aus. Wir wären empört darüber, ein von den Massenmedien genährtes Vorurteil zum psychologischen Archetypus gemodelt zu sehen.

Ob Hongkong oder Grinzing! Im Prinzip ist das gleich. Eine phantastische Formel. Verfremdungsartistik, mit der sich nur identifizieren kann, wer Klischees für bare Münze nimmt.

Die beiden neuen Dichtungen von Michel Butor, die in diesem Band vereinigt sind, verdanken ihre Entstehung einer meisterhaften poetischen Collagetechnik. Die Effekte, die sich damit erzielen lassen, sind stark und rechtfertigen die Methode. Die Schwierigkeiten beginnen bei der Lektüre. Während die „optischen“ Typen unter den Lesern ohne weiteres in der Lage sein werden, das Bild der Seiten ganz zu erfassen und das montierte Gefüge als Gesamtwerk zu genießen, scheitern analytische Typen unweigerlich. Sie erfassen sehr schnell die durch verschiedene Zeileneinrückungen und Schriftsätze markierten Ebenen und lesen das Buch dann wie eine Zeitung, in der man den durch Anzeigen und Einschaltungen unterbro-

chenen Text weiterverfolgt. Die Absicht des Autors und der Reiz des Werkes sind dadurch zerstört. Denn Michel Butor wollte mit seiner Montage, für die sich bereits Vorbilder zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden, die faszinierende Gleichzeitigkeit von Vorgängen und Eindrücken, die Relativität von Zeit und Raum ausdrücken.

Die erste Dichtung „Mobile“ gleicht etwa den Impressionen eines Satellitenpiloten, der über den amerikanischen Kontinent fliegt und nicht nur die Oberfläche, sondern auch die Tiefe des Landes in rasender Eile überblickt. Ortsangaben, Zeitpunkte, Stadtbilder, Abschnitte aus Reisebeschreibungen, Gerichtsszenen, Gesprächsfetzen jagen in abrupten Übergängen einander. Leitmotive werden immer wieder aufgenommen. Phrasierungen klingen an und sind schon wieder vorbei. Man müßte ein ganz enormes, spezdell trainiertes Lesetempo haben, um diese Seiten quasi in Rotation zu versetzen und den Schwindel, den sie verursachen sollen, auszukosten.

Etwas leichter für den Leser ist die „Beschreibung von San Marco“. Hier hat Butor in den kunstgeschichtlichen Exkurs und verschiedene rhythmische Schilderungen de* Markusdoms von Venedig die banalen Gespräche des internationalen Tourismus eingeblendet. Das enge Nebeneinander von Heiligtum und Profanierung, von Höchstem und Niederstem, von Mystik und Instinkt läßt sich auf diese Weise gut darstellen. Die Schwierigkeiten für den analytischen Leser bestehen hier vor allem darin, daß er in der Lage sein muß, einen abgebrochenen Satz, ja selbst den ersten Teil eines abgeteilten Worts über eine oder zwei Seiten zu behalten. Dann setzt sich plötzlich der Torso an unerwarteter Stelle wieder fort. Eine nette Denksportaufgabe, nicht ohne unfreiwilligen Humor zu lösen!

Ein Buch dürfte nicht das richtige Medium zur Vermittlung der von Michel Butor beabsichtigten Aussagen sein. Die Übersetzung dieser Dichtungen in optische und akustische Elemente könnte die Intentionen des Autors besser zur Geltung bringen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung