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Frankreichs zornige Jugend

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Wir leben in einer Epoche, m aer die Jugend das. öffentliche Interesse in einer zuvor nie gekannten Weise beschäftigt. Wenn diese Erscheinung auch mit verschiedener Intensität auf der ganzen Welt zu beobachten ist, so scheint im europäischen Raum besonders Frankreich zu den Ländern zu gehören, wo dank einer traditionellen Freizügigkeit das Phänomen der modernen Halbwüchsigen nach allen Richtungen hin beobachtet, definiert und gedeutet wird.

Die Tatsache beispielsweise, daß beim 31. Internationalen Gerichtsmedizinischen Kongreß, der soeben in Montpellier stattgefunden hat, die französischen Polizeistatistiken in den letzten Jahren eine beachtliche Zunahme der Jugendkriminalität auswiesen — wobei der Löwenanteil den Sittlichkeitsdelikten zufällt — ist ein Hinweis auf die Frühreife des Nachwuchses. Pathologisch ist dieses Phänomen insofern, als bei Jungen und Mädchen die seelische und geistige Entwicklung mit der körperlichen nicht Schritt zu halten vermag, was nicht selten zu Komplexen und Triebhan dlungen führt. Wir möchten uns jedoch entschieden weigern, die Jugend Frankreichs in Bausch und Bogen als krankhaft oder abartig zu bezeichnen, auch wenn Studenten der Sorbonne über einen ungewöhnlichen Auftrieb der Homosexualität auf der einen und einer betonten „Asexualität“ auf der anderen Seite berichten.

Bei näherem Hinsehen erweisen sich derartige Erscheinungen in zahlreichen Fällen nicht als Triebneigungen, sondern als Ausdruck des jugendlichen Snobismus: Man möchte aus der Reihe fallen, interessant erscheinen, dadurch als Persönlichkeit wirken, daß man sich gegen eingefahrene bürgerliche Gewohnheiten auflehnt. Eine Latera- turstudentin deutete uns den viel- verbreiteten Hang junger Männer zu mädchenhaften Kostümen und zu langer Haartracht als Auflehnung gegen die Geschlechtertrennung!

Revolte der langen Haare

In den Jahren vor dem Kriege galt bei den Sorbonne-Studenten die Aktenmappe als Symbol des Spießers und — fast über Nacht — pflegten junge Männer und Mädchen ihre Bücher und Hefte mit Leder- riemen umgürtet über den Boule vard Saint-Michel zu tragen. Daran hing an einem Bindfaden ein Tintenfaß, denn auch der Füllfederhalter galt als spießiges Requisit Als schließlich alle diese Gewohnheit angenommen hatten, wurde man sich dessen bewußt, daß sie zu einer konformistischen Angelegenheit degradiert worden war und ging von ihr wieder ab. Ähnlich wird es wohl eines Tages den jungen Spitzbart- und Vollbartträgem ergehen, die heute mit der Imitation gewisser Revolutionäre in Europa und Übersee eine aufständische Gesinnung afflehieren: Wenn die Mehrheit über einen Bart verfügen wird, wäre sein Sinn, „originell“ zu wirken, verloren. Was aber die über die Schultern herabfallenden Haare angeht, so soll nach Ansicht guter Beobachter unter den Teenagern des linken Seineufers der Kulminationspunkt bereits erreicht sein.

Johnny contra Antoine

Ihre Erklärung für die Bekundung einer wieder erwachenden Männlichkeit klingt recht plausibel: Das letzte Jahr war von einem Zweikampf zwi schen zwei Fernsehadolen — dem Ye-ye-Säager Johnny Halliday und dem langhaarigen Schnulzeninterpreten Antoine — bestimmt. Diesem Kampf um die Gunst der Halbwüchsigen zeigte sich der 24jährige Johnny Halliday nervenmäßig nicht gewachsen, zumal eine zerbrochene, gerade ein Jahr währende Ehe, die genau so öffentlich „ausgetragen“ wurde wie das Ringen um Schallplattenmillionen, in die gleiche Periode fiel. Er unternahm einen Selbstmordversuch, wurde jedoch mit knapper Not gerettet. Gleichgültig, ob Johnny Hally- day nun das Sterben wirklich „eingeplant“ hatte oder nicht — der Selbstmordversuch zahlte sich aus: Nach einer längeren Schlafkur feierte er in diesen Tagen sein „Comeback“ auf der Bühne des Pariser Olympia-Theaters, das mit einem unbestrittenen Sieg über seinen Rivalen Antoine endete.

Die Knitikerin Anne de Gasperi schildert dieses Ereignis in der durchaus seriösen Tageszeitung „Combat“. Ausführlich läßt sie sich über den „romantischen Helden, der die Krankheit unseres Jahrhunderts, den Erfolg, mit sich schleppt“ aus. Man spürt förmlich, wie ihre Tränen über die Sehreibm chinentasten fließen, während sie huftrissen über dieses Delirium, diesen „Rekord an Begeisterung“ berichtet, nachdem Johnny Hallyday verratene Liebe, verlorene Träume, Angst und Einsamkeit besungen und sich in der Ekstase am Boden gewälzt hat. Eindrucksvoll gibt dann Anne de Gasperi wider, wie der „romanitische Held“ plötzlich innehält, seine Krawatte abbdndet und in den Zuschauerraum wirft, die im Fluge aufgefangen wird, wie er sein schweißdurchnäßtes Hemd mit der Geste eines Grandseigneurs der Krawatte folgen läßt: Ausgehungerten Wölfen gleich, stürzen sich die „Fans“ auf das schweißdurchnäßte Kleidungsstück, um es in tausend Reliquien zu verwandeln. Da geht der Enthusiasmus mit der Kritikerin durch. Sie schreibt wie in Trance: „Johnny, du bist der beste! Du bist der einzige! Du bist der schönste und der größte! Johnny ist unser Gott, der Rook ’n’ Roll unsere Religion ..

Die Krise der Autorität

Mit pharisäyischer Nachsicht stellen nun die Alten, die von dieser neuzeitlichen „Krankheit der Jugend“ leben, fest, daß die neue Generation im Grunde gesund sei, daß sie Alkohol verabscheue und der Geißel des Rauschgifts nur in seltenen Ausnahmefällen zugänglich sei. Sie halten die Heranwachsenden für ehrlicher und tüchtiger als ihre Väter.

Diese Argumentation, deren Scheinheiligkeit offensichtlich ist, beruht entweder auf skrupelloser Spekulation und materieller Ausnutzung einer „Konjunktur“ oder aber auf einer sträflichen Bequemlichkeit und Passivität. Denn letztlich t ist die „Krankheit der Jugend“, zumindest in Frankreich, die Folge einer geistig und seelisch bedingten Krise der Autorität. Niemand wind amtlich behaupten können, daß die frühreifen Teenager die Alten wegen ihrer weißen Haare und Gesichtsfalten verachten. Die Verachtung gilt ihrer Bewegungslosigkeit, ihrer Gleichgültigkeit, ihrem Mangel an produktiver Phantasie. Das hat mit „Reglementierung“ und „Bevormundung“ nichts zu tun, gegen die sich die Jugend aller Zeiten aufgelehnt hat. Ihre kollektive Ablehnung der älteren Generation heute beruht im

Mangel der Vorbilder und echter Ideale. Das Vakuum, das sie bei den Alten spürt, treibt sie zu Johnny Hallyday und Antoine.

Natüiilich gibt es neben diesen ständig ins Auge fallenden „Typen“ ein Heer von arbeitenden, studierenden, sich mit den Sorgen des Alltags herumschlagenden Jugendlichen. Doch auch sie weiden irgendwie durch Hit-Klubs, die Musicbox und das häusliche Fernsehen, in dem sich die zu Idolen avancierten zuckenden und wimmernden Schallplattenmil- lionäre ihres Alters tagtäglich produzieren, mitgeprägt. Das Niveau in den Schulen und Universitäten ist bedenklich gesunken. Nach vorherrschender Überzeugung ist das Wunschbild des jungen Franzosen von heute der materielle Erfolg ohne sonderliche Anstrengung. Ohne persönlich Opfer zu bringen, möchte er reich werden und ein bequemes Leben führen. Er hat die Diskrepanz zwischen Reichtum und Geistigkeit ständig vor Augen und zögert nicht bei der Wahl: Er will „Geld machen“ um persönliche Macht zu erringen — der Weg und das Mittel ist ihm gleichgültig. Das kulturelle Erbe wird bei dieser neuen Mentalität zu einem Faktor am Rande, den man Außenseitern überläßt. Auch die Politik paßt nicht mehr in ein Weltbild, das sich von früheren Ordnungsprinzipien und den damit verbundenen Idealen entfernt hat, das aber auch nichts Neues auf die Beine zu stellen vermag.

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